Ekel / Leichensache Kollbeck
schalldicht gefütterte Tür, dem Eingang zur Höhle des Löwen.
Mit forschem Schritt tritt Förster ein. Dann bleibt er wie angewurzelt stehen, die Arme senkrecht am Körper anlegend, eine Hand zur Faust geballt, in der anderen die Akte und das orangefarbene Aufzeichnungsheft. Er hat die geforderte militärische Grundstellung eingenommen. Sein Blick ist geradezu auf Rüttig gerichtet, einem untersetzten Endfünfziger der alten Antifa-Garde, der, ständig kleine Schweißperlen an der Oberlippe produzierend, von einem wuchtigen Schreibtisch aus zwischen einer Batterie von Telefonen das Dezernat regiert.
Dieser spricht zu den anwesenden Männern, die vor ihm um einen langen Tisch sitzen und eifrig Notizen in die gleichen orangefarbenen Hefte machen, von denen Förster eines gegen den Körper preßt.
Der Mann hinter dem Schreibtisch zieht, während er spricht, ein meterlanges Fernschreiben durch seine fleischigen Finger, den sogenannten Lagefilm.
Regungslos wie der gußeiserne Miniatur-Lenin auf dem Schreibtisch seines Chefs steht Förster an der Tür. Dann unterbricht Rüttig einen bereits begonnenen Satz und schießt einen gezielten Strafblick auf den Untergebenen ab. Er will gerade loswettern, da kommt dieser ihm mit klarer, lauter Stimme zuvor: „Genosse Oberstleutnant, melde mich zum Rapport!“ Die über die orangefarbenen Hefte gebeugten Männer blinzeln Förster aus den Augenwinkeln neugierig an.
Der Oberstleutnant rückt sich in seinem Ledersessel zurecht und knöpft sein Jackett zu. Sein Parteiabzeichen blinkt auffällig auf dem dunkelblauen Anzug wie ein Fixstern am Nachthimmel. Er sieht Förster streng an und zischt: „Ich möchte mal erleben, daß die MUK pünktlich zum Rapport erscheint!“
Dann macht er eine kurze Pause, sackt wieder tiefer in den Sessel und – ohne Förster anzusehen – spricht mit ruhiger Stimme, als wolle er die Verspätung gnädig übergehen: „Nehmen Sie schon Platz, Genosse Hauptmann! Wir wollen weitermachen.“
Förster setzt sich zu den anderen, legt die Akte und das orangefarbene Heft vor sich und zwinkert lächelnd einen Gruß in die Runde.
Rüttig sucht die Stelle in dem Fernschreiben, an der er durch Försters Eintritt unterbrochen wurde. Dann beginnt er wieder: „Also, Genossen, weiter zur Lage!“
Es folgt eine Aufzählung aller meldepflichtigen Vorkommnisse der letzten Nacht, die der Fernschreiber des Kriminaldienstes aufgezeichnet hatte.
Förster hört von wichtigen Einsätzen der Funkstreifen, von Einbrüchen und hilflosen Personen, von Verkehrsunfällen, einem versuchten Grenzdurchbruch, vom Auffinden einer unbekannten Frauenleiche und von allerlei Autoräderdiebstählen auf einem Parkplatz in der Innenstadt.
Hier und da macht sich einer der anwesenden Männer eifrig Notizen. Der Oberstleutnant fragt sie dann reihum nach dem aktuellen Ermittlungsstand wichtiger Vorgänge und zeigt dabei eine erstaunliche Sachkenntnis. Es werden Maßnahmen beschlossen, Haftsachen erörtert, Kräfteaufwand und Mittel beraten und Termine abgestimmt. Und wenn der Oberstleutnant von den Ergebnissen und Entscheidungen seiner untergebenen Leiter beeindruckt ist, lobt er sie mit kargen Worten: „Gut! Weiter so! Wenn Sie Probleme haben, kommen Sie zu mir!“ Letzteres wagt kaum einer.
Schließlich folgt das politisch-aktuelle Gespräch, kurz PAG genannt, das Förster Freunden gegenüber als „Morgenandacht“ bezeichnet. Rüttig breitet dazu einen halben Quadratmeter „Neues Deutschland“, das Organ des Zentralkomitees der SED, vor sich aus und kommentiert die seiner Meinung nach wichtigsten Beiträge. Förster folgte dem Parteikauderwelsch nur mit halbem Ohr.
Wie üblich fordert Rüttig danach die Anwesenden auf, „Stimmungen und Meinungen aus den Arbeitskollektiven vorzutragen“. Einige berichten, mit welchen Wettbewerbsverpflichtungen sie den 30. Jahrestag der Volkspolizei vorbereitet haben, andere flechten in die Huldigungen der Parteipolitik vorsichtige Kritiken an der Versorgung durch den Einzelhandel ein. Der Rest sagt nichts.
Nach einer reichlichen halben Stunde beendet Rüttig den Rapport. Doch bevor die Männer den Raum verlassen haben, bittet Förster, ihn sprechen zu dürfen.
„Warten Sie, bis die anderen raus sind.“
Es wird bald ruhig im Zimmer des Oberstleutnant und Förster kann seine Angelegenheit vorbringen: „Es geht um die Vermißtensache Einbecker …“, er legt dem Chef die Akte vor, die er die ganze Zeit sorgsam in der Hand gehalten hatte,
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