Ekel / Leichensache Kollbeck
angefangen …
Während an den folgenden Tagen auf dem Hallenser Marktplatz zahllose Neugierige das von der Kriminalpolizei in einem Schaufenster des Centrum-Warenhauses ausgehängte Fahndungsplakat und den zur Schau gestellten Koffer beäugen, laufen die Ermittlungen zur Herkunft des beschrifteten Plastiksacks auf Hochtouren. Sie führen schließlich zu dem wenig ermutigenden Ergebnis, daß vor knapp zehn Jahren mehr als eintausend aus Holland importierte Steppdecken in derartigen Behältnissen in den halleschen Einzelhandel gelangt waren.
Oberleutnant Nolls Hoffnungen richten sich deshalb zunächst darauf, daß Zeugen den ausgestellten Koffer wiedererkennen. Inzwischen werden die angefangenen Kreuzworträtsel von Schriftsachverständigen beurteilt. Zwei wichtige Schlußfolgerungen können sie ziehen: Zum einen wurden alle Rätsel von demselben Schreiber angefangen, zum anderen weisen die etwas schwerfälligen Buchstaben so viele individuelle Merkmale auf, daß das für einen späteren Schriftvergleich geeignet und ausreichend scheint.
Das kriminalistische und charakterologische Interesse an der Handschrift dürfte genauso alt sein wie die Fälschung von Schriftstücken, das Verfassen anonymer Schmähschriften oder die Bemühungen um Urheberschaft einer Schrift. Das erste, bereits im 17. Jahrhundert veröffentlichte Buch über die Beurteilung von Handschriften verfaßte der Italiener Camillo Baldo. Doch sollten noch mehrere Jahrhunderte ins Land gehen, bis die Ergebnisse der Schriftbegutachtung auf einer wissenschaftlichen Grundlage, weitgehend frei von Spekulation und Voreingenommenheit, standen. Eines der folgenschwersten Fehlgutachten über ein handgeschriebenes Dokument erstattete 1894 Alphonse Bertillon, seit 1888 Chef des weltweit ersten polizeilichen Erkennungsdienstes der Pariser Präfektur, im Kriegsgerichtsverfahren gegen den Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus. Gefälschte Beweise und eben dieses Fehlgutachten führten dazu, daß Dreyfus zu lebenslanger Deportation auf die berüchtigte Teufelsinsel verurteilt wurde. Erst zwölf Jahre später wurde das Gutachten in einem wiederaufgenommenen Verfahren widerlegt und Dreyfus freigesprochen.
Daß aber trotz aller modernen Expertisemöglichkeiten Handschriften auch noch heute gewinnbringend gefälscht werden können, ohne daß der Betrug sofort bemerkt wird, beweisen die von Konrad Kujau fabrizierten „Tagebücher“ Adolf Hitlers, die die Illustrierte „Stern“ Anfang der achtziger Jahre für nahezu zehn Millionen Mark arglos aufkaufte.
Die Grundmethoden der Schriftbeurteilung bestehen im bloßen Formenvergleich, in der Typisierung von Schriftmerkmalen oder in sogenannten graphometrischen Messungen und richten sich stets darauf, den Schreiber zu identifizieren, dessen Handschrift mannigfaltige Merkmale aufweist. Diese Merkmale, die daher rühren, daß sich das Schreiben nahezu automatisiert hat, machen es der modernen Kriminalistik verhältnismäßig leicht. Aus den einst schwerfälligen, malenden Schreibbewegungen des Schulkindes werden unwillkürliche Gewohnheitsbewegungen des Erwachsenen. Die sogenannte Schulausgangsschrift entwickelt sich zu einer ganz persönlichen „Hirnschrift“, und ihr hoher Individualisierungswert bildet die Basis für die Rechtsverbindlichkeit eines handgeschriebenen Schriftstücks oder gar nur einer Unterschrift.
Für die kriminalistische Handschriftenuntersuchung müssen neben dem fraglichen Schriftstück entsprechende Vergleichsproben vorliegen, die, nachdem die jeweiligen Merkmalskomplexe bestimmt wurden, einander gegenübergestellt werden.
Zusätzlich kann der Untersuchungsgegenstand auf die Identifizierung des Schreibgeräts, des Schriftträgers und des Schreibmittels erweitert werden. Aber auch dann muß ausreichendes Vergleichsmaterial zur Verfügung stehen.
Läßt sich der Verdächtigenkreis nicht näher einengen, sind die praktischen und rechtlichen Grenzen der Beschaffung von Vergleichsschriften meist schnell erreicht. Für die Volkspolizei, besonders aber für das MfS, war das indes kein Grund zur Resignation. Einerseits, weil ein zentralistisch geführter Staat, die allenthalben gespitzten Ohren der Sicherheitsorgane in den Betrieben, Schulen, Massenorganisationen und Hausgemeinschaften es möglich machten, die Barrieren mühelos zu überwinden; andererseits, weil selbst dann, wenn sich eine MUK strikt an die rechtlichen Spielregeln hält, eine Gewaltstraftat viel stärker an das Rechtsempfinden der
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