Ekel / Leichensache Kollbeck
grausame Möglichkeit eines Verbrechens ab. Fragen über Fragen drängen sich auf. Wer könnte Interesse am Tod des Jungen haben? Wie sicher sind die Angaben der Mutter über den Ablauf, die Zeiten, die Umstände? Wo hielt sich Linos Vater am Nachmittag des 15. Januar auf? Könnte er womöglich ein Motiv besitzen? Wo könnten der Tatort, der Fundort, die Leiche sein?
Die Alibis der Verwandten, Bekannten und Freunde der Familie Brandt werden überprüft. Die Schnüffelei der VP wird immer lästiger. Bei den Befragten, aber auch bei den Befragern machen sich allmählich Unwille und Mißtrauen breit. Verdächtigungen werden offen oder hinter vorgehaltener Hand geäußert. Hauptmann Scherzer weiß um die Tragik solcher vorschnellen Urteile nur zu gut, vor allem, wenn der Staatsanwalt oder der Richter auf sie hereinfällt. Es gilt, kühlen Kopf zu bewahren und die Ungeduld nicht taube Blüten treiben zu lassen. Den Spekulationen besonders eifriger Zeugen muß genauso begegnet werden, wie denen der Vorgesetzten, denen der politische Druck von oben den Sinn für die kriminalistische Realität abhanden kommen läßt.
Allzu leicht wird daher der mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geratene, alkoholabhängige Vater des verschollenen Jungen die schnelle Beute falscher Verdächtigungen, zumal es seinem Alibi an ausreichender Überzeugungskraft mangelt. Mit nahezu pathologischem Starrsinn versteift sich auch Scherzer auf einen Verdacht gegen den Vater. Er ist unablässig bemüht, seine Ermittlungen auf diesen zu konzentrieren, und unterliegt dem Fehler einer leichtfertigen Fokussierung auf eine einzige Person. Fehlende materielle Beweise dürfen aber nicht durch Fiktionen ersetzt werden, auch wenn der SED-Parteitag immer näher rückt. Scherzers Untersuchungsmethodik wird kritisiert. Doch er zeigt keine Einsicht. Verbissen hält er den Vater Linos für den Täter. Kurzerhand wird ihm der Fall entzogen und in die Hände seines Stellvertreters, Oberleutnant Noll, ein agiler, intelligenter Enddreißiger mit Universitätsabschluß, gegeben.
Am 28. Januar 1981 tritt die langersehnte, gleichzeitig aber befürchtete Wende im Fall Lino Brandt ein: Auf der stark befahrenen Reichsbahnstrecke zwischen Halle und Leipzig wird nahe der Ortschaften Schkeuditz und Wahren, direkt neben den Gleisen, in einem zerschlissenen Pappkoffer die Leiche eines kleinen Jungen gefunden. Die Vermutung liegt nahe, daß der Koffer aus einem fahrenden Zug geschleudert wurde. Noll, Scherzer und Ärzte aus dem Leipziger Institut für Gerichtliche Medizin und Kriminalistik sind sofort zur Stelle. Der Junge ist mit Sicherheit schon längere Zeit tot, doch das kalte Januarwetter hat die Verwesung des kleinen Leichnams verlangsamt, so daß noch günstige Untersuchungsbedingungen bestehen.
Die Kriminalisten haben ausreichende Unterlagen über Lino Brandt mitgebracht, so daß die Leiche vor der Obduktion, die tags darauf stattfindet, identifiziert werden kann. Zweifelsfrei handelt es sich um Lino Brandt, der offensichtlich durch stumpfe Gewalteinwirkungen auf den Schädel und massive Stiche in die Brust getötet wurde. Wahrscheinlich war der Junge vor der Tötung sexuell mißbraucht worden. Dafür sprach die ungewöhnliche Erweiterung des Afters. Der Täter hatte die nackte Leiche in mehrere Plastiksäcke gehüllt, in den Koffer gezwängt und die Lücken mit der Bekleidung des Jungen, aber auch alten Zeitungen und Zeitschriften ausgefüllt. An Linos Kleidung finden sich massenhaft Fremdfasern, Haare und Bodenspuren, die, wie sich später herausstellen wird, als materielle Beweise einmal große Bedeutung haben werden. Auf einem der Plastiksäcke prangt ein Aufkleber mit der Beschriftung „Euvetes Nederland, Art. nr. 4000 ACN/EIN, Material Zellwolle/B Acryl, 1. Wahl, MSL nr. Größe 150/200 cm, EVP 76,50“. Ausreichende Angaben, um vielleicht herauszufinden, was die Säcke ursprünglich enthielten. Der braune Koffer, ein älteres Billigmodell, besitzt eine eigenwillige Innenverkleidung. Denkbar, daß es jemanden gibt, der diesen Koffer wiedererkennt. Die Zeitungen und Zeitschriften, Januarausgaben der FDJ-Zeitung „Junge Welt“, der „BZ am Abend“ und des Frauenjournals „Für Dich“ sowie verschiedene Exemplare der „Neuen Berliner Illustrierten“ und der „Freien Welt“, auch zwei Kinderzeitschriften, lassen zwar keinen direkten Rückschluß auf einen bestimmten Bezugsort zu, doch jemanden haben es die Kreuzworträtsel angetan; verschiedene wurden
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