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Ekel / Leichensache Kollbeck

Ekel / Leichensache Kollbeck

Titel: Ekel / Leichensache Kollbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Girod
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Unaufhaltsam zog es die Hallenser dorthin, weil die alten, vom Krieg verschonten Wohngebäude ihrer Stadt inzwischen völlig heruntergekommen waren.
    Straßennamen gab es so gut wie keine. Die Wohnblöcke trugen schlichte Ziffern. Ein Ortsunkundiger erkannte nur schwer ein ordnendes System und irrte lange zwischen den Betonriesen umher, ehe er sein Ziel erreicht hatte.
    Lino Brandt ist ein fröhlicher, aufgeweckter, zarter Junge von sieben Jahren, Schüler der 1. Klasse in der 6. Polytechnischen Oberschule von Halle-Neustadt. Südöstlich der Magistrale, die das Hallesche Zentrum mit der Neustadt verbindet, sie durchquert und schließlich in die heutige Bundesstraße 80 mündet, im Block 483 ist sein Zuhause. Dort lebt er zusammen mit seiner zwölfjährigen Schwester bei seiner Mutter. Der Vater wohnt, getrennt von seiner Familie, einige Kilometer entfernt, in einer Junggesellenwohnung. Lino kann nicht begreifen, warum die Eltern sich nicht verstehen. Er sieht seinen Vater nur gelegentlich.
    Am Nachmittag des 15. Januar 1981 erfüllt ihm die Mutter einen lang gehegten Wunsch: Er darf allein ins Kino „Treff“, knapp zehn Minuten Fußweg von der Wohnung entfernt. Der Weg ist ihm vertraut, er führt an der großen Kaufhalle und der Poliklinik vorbei, die er zuweilen mit der Mutter besucht hat. Die Schwester begleitet ihn ein Stück Wegs, bis das Kino in Sichtweite ist, dann trennen sich ihre Wege.
    Zum Abendbrot hätte der kleine Lino zurück sein müssen, und in dem Maße, wie das Essen langsam kalt wird, nimmt die Besorgnis der Mutter zu.
    Schließlich hält sie es nicht mehr in der Wohnung. Sie sucht die nahegelegenen Spielplätze ab, telefoniert mit Bekannten, fragt bei Spielgefährten und Mitschülern nach, die sich längst wieder in der Obhut ihrer Eltern befinden. Niemand weiß etwas über Linos Verbleib, nirgends wurde er gesehen. Die winterlichen Straßen sind inzwischen nahezu menschenleer, die wenigen Geschäfte haben bereits geschlossen. Schlimme Ahnungen steigen in ihr auf und treiben sie gegen acht Uhr abends auf das 4. VP-Revier von Halle-Neustadt.
    Die Polizisten beruhigen sie, nach ihren Erfahrungen tauchen die meisten verschwundenen Kinder ein paar Stunden später auf. Kindern vergeht die Zeit wie im Flug, indes die wartenden Eltern Ängste ausstehen. Doch es ist Winter, und Lino hat sich so sehr noch nie verspätet. Das inständige Bitten der besorgten Mutter und die Einsicht in die polizeiliche Pflicht, mögliche Gefahren abzuwenden, veranlassen die Polizisten dann doch zu schnellem Handeln. Und nur wenig später durchkämmen Schutzmänner die Gegend zwischen dem Wohnblock 483 und dem Kino, forschen auf Spielplätzen und in Garagen nach, durchstöbern Abstellplätze für Mülltonnen, befragen Linos Spielkameraden. Die Suche bleibt erfolglos, kein Ort, den man nicht ausgespäht hätte. So vergehen die Stunden. Nun verstärkt sich auch auf dem Revier die Vermutung, daß etwas geschehen sein könnte, und man entschließt sich zu ernsthaften polizeilichen Maßnahmen.
    Ein Polizeiwagen bringt Frau Brandt gegen Mitternacht zum VP-Kreisamt, um – wie es den Dienstvorschriften entspricht – ihre Vermißtenanzeige von der Kriminalpolizei aufnehmen zu lassen. Nach Lino Brandt wird eine Eilfahndung ausgelöst. Uniformierte und zivile Nachtstreifen halten Ausschau nach dem siebenjährigen Jungen. Die Mutter läßt sich nicht mehr beschwichtigen, und auch die Hoffnungen der Polizei auf einen raschen Fahndungserfolg sinken von Stunde zu Stunde.
    Der Morgen graut nach durchwachter Nacht, doch Lino bleibt verschwunden. Nun nimmt der Umfang der polizeilichen Maßnahmen zu. Zwar zögert man noch etwas mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen „Unbekannt“, doch wird eine erneute, diesmal systematische Suche in den Wohngebieten von Halle-Neustadt angeordnet. Wieder werden Linos Freunde befragt, aber auch Taxi- und Busfahrer, Zeitungsausträger, Straßenarbeiter und die Angestellten des Kinos „Treff“ vernommen. Doch niemand kann weiterhelfen, nicht der kleinste Fingerzeig ergibt sich, Lino bleibt unauffindbar.
    Die Hallenser Bezirksleitung der SED, die von dem Fall erfährt, reagiert sensibel. Im ganzen Land laufen fieberhaft und wie nach einem Stabsplan die Vorbereitungen auf den X. Parteitag, mit dem ein weiteres Loblied auf die Partei als führende Kraft bei der „Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ angestimmt werden soll. Erfolgsmeldungen sind gefragt. Da könnte

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