Ekel / Leichensache Kollbeck
selbst ein Randereignis wie der ungeklärte Vermißtenfall eines siebenjährigen Jungpioniers aus Halle-Neustadt einen Mißklang in den heroischen Chorus bringen.
So drängen die Genossen der SED-Bezirksleitung, der Bezirksverwaltung des MfS und der Polizeiführung auf schnelle Aufklärung und geben nach Abstimmung mit ihren jeweiligen Berliner Obrigkeiten grünes Licht für weitere, nunmehr massive Sucheinsätze und für eine großzügige Öffentlichkeitsarbeit der Kriminalpolizei.
Bereits am 17. Januar verbreitet die offizielle Bezirkspresse, die Tageszeitung „Freiheit“, eine Fahndungsinformation, in der die Bevölkerung zur Mitarbeit aufgerufen wird. Solche Meldungen, die dazu angetan sind, die Bürger zu beunruhigen, sind in dieser Zeit durchaus nicht üblich.
Am 18. Januar 1981, drei Tage nach dem Verschwinden des Jungen, übernimmt die MUK Halle den Vermißtenfall Lino Brandt, für dessen Aufklärung eigens eine Einsatzgruppe gebildet wird. Weitere Polizeikräfte werden ihr zugeordnet, Kraftfahrzeuge und Büroausstattungen zur Verfügung gestellt. Chef der Einsatzgruppe ist der langjährige Leiter der MUK Hauptmann Siegurt Scherzer (52), ein erfahrener Praktiker, seit Gründung der Volkspolizei in ihren Diensten, stolz darauf, die Polizeischule für Kriminalistik in Arnsdorf besucht zu haben, die längst nicht mehr besteht. Er hat nicht wenige Gegner in den Führungsetagen. Nicht nur, daß man ihm sein Talent neidet, komplette Sätze einer Beethoven-Sinfonie fehlerfrei vor sich hin zu summen. Nicht nur, weil er dazu neigt, sich gelegentlich bis zum Stehkragen mit Alkohol zuzuschütten. Nein, man fürchtet vor allem seine spitze Zunge und seine Schlagfertigkeit, mit der er in heiklen Situationen verschieden interpretierbare Antworten gibt. Das verunsichert manchen. Doch seine fachliche Kompetenz vermochte ihm bislang keiner streitig zu machen.
Scherzer muß die Ermittlungen in der erforderlichen Breite führen. Die Ausgangsdaten sind zu dürftig, als daß man aus ihnen etwas Konkretes ableiten könnte. Folglich muß von mehreren gleichwertigen Annahmen ausgegangen werden. Sie dürfen nur eben keine Lücken aufweisen, damit man sicher sein kann, daß wenigstens eine von ihnen zutreffen wird. Kleine Gruppen von Ermittlern verfolgen die möglichen Untersuchungsrichtungen. Scherzer geht davon aus, daß Lino Brandt noch lebt, daß er sich verirrt hat und dringend Hilfe braucht. Gleichzeitig zieht er auch die Version eines Unfalls ins Kalkül. Doch daneben rechnet er auch mit der schlimmsten Möglichkeit: Lino könnte Opfer eines Verbrechens sein.
Eine Suche gigantischen Ausmaßes nimmt ihren Verlauf. Keller, Scheunen, Abrißgrundstücke, Sport- und Parkanlagen, Kanalisationen in der näheren und weiteren Umgebung von Linos Wohnung werden systematisch durchstöbert, man sucht die Angersdorfer Teiche ab, den langgedehnten Kirchteich, die Kanäle westlich der Rabeninsel. Der Junge könnte ins Eis eingebrochen sein. Natürlich gilt die Aufmerksamkeit in erster Linie dem Jungen selbst, doch achten die Suchkräfte auch auf Gegenstände, die einen möglichen Zusammenhang zu einem Verbrechen nahelegen und die spurenkundlich zu untersuchen sind: Sie finden u. a. verrostete Stichwerkzeuge, alte Bekleidung, Kinderschuhe, benutzte Taschentücher, Fahrkarten, Kinderspielzeug usw. Dutzende dieser vermeintlichen Spurenträger warten auf ihre Begutachtung. Ein mit großen Mühen Besucher für Besucher erfassender Bestuhlungsplan der Kinderfilmveranstaltung vom 15. Januar erfordert die Befragung von mehr als einhundert Personen. Sämtliche medizinischen Einrichtungen in Halle-Neustadt, in Halle und im ganzen Saalkreis werden von den zähen Ermittlern aufgesucht. Tagelang sind Hunderte Einsatzkräfte auf der Suche nach dem Kind. Eine Fülle von Hinweisen geht bei der Einsatzgruppe ein, jedes Detail will bedacht und ernstgenommen sein. Viele Hinweise führen an der Sache vorbei und andere widersprechen sich. Neue Ermittlungen sind nötig, bis die Widersprüche ausgeräumt sind.
Hauptmann Scherzer weiß, daß der Schlüssel zum Fahndungserfolg auch im scheinbar Nebensächlichen verborgen sein kann. Also wird jede Information gewissenhaft gespeichert. In nur wenigen Tagen füllen die Akten ein ganzes Zimmer. Es bedarf einer eigenen Ordnung, sich in ihnen zurechtzufinden.
Doch Lino Brandt bleibt verschwunden. Immer mehr verblaßt die Aussicht, Lino könnte lebend gefunden werden, dagegen zeichnet sich immer deutlicher die
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