Ekel / Leichensache Kollbeck
zur totalen Baufälligkeit abgenagte Wohnungen stehen schon seit Jahren leer. Noch ahnt niemand, daß siebzehn Jahre später gerade sie begehrte Objekte der Berliner Hausbesetzerszene und die Mainzer Straße insgesamt der erste große Kriegsschauplatz der heftigen Auseinandersetzungen zwischen der nunmehr ost-westlich vereinten Polizei und den ostwestlich vereinten Besetzern sein werden.
Am Ende dieser kurzen Straße, Ecke Frankfurter Allee, befindet sich das Etablissement „Mainzer Eck“, eines der wenigen Tanzlokale in der attraktiv sein wollenden Hauptstadt der DDR, deren Polizeistunde bis ins Morgengrauen verlängert wurde. Es ist das Ziel der beiden Männer, zumindest das des ABV.
„Ich muß hier mal kurz rein“, sagt er, „es geht schnell!“
Er klopft an die verschlossene Eingangstür. Ein bulliger Typ in adrettem Anzug läßt die Beiden ein: „Alles in Ordnung, Genossen, der Laden ist proppenvoll!“
Drinnen produziert ein Trio älterer Herren in roten Westen eine Art Wiener Schrammelmusik. Auf der kleinen Tanzfläche tummeln sich die Schmusepaare im Dämmerlicht, ausgelassen und weinselig. Auf jedem der Tische glitzern im Kerzenlicht der bunten Adventsgestecke die Sekt- und Weingläser.
„Bleib du hier!“, fordert der ABV Rainer Brunk auf, „ich will nur mal sehen, ob einer unserer Pappenheimer drin sitzt.“
Brunk versteht nicht, bleibt aber folgsam an der Windfangtür zurück, während sich der ABV durch das bunte Gewühl in das Lokalinnere zwängt. Der Stiernacken hat die Eingangstür wieder verschlossen und postiert sich autoritätsbewußt neben Brunk, dessen neidvoller Blick durch die Scheiben des Windfangs über die tanzende Menge streift.
Wenige Augenblicke später sieht er nicht nur den ABV zurückkommen, sondern entdeckt plötzlich inmitten der tanzenden Meute seine Freundin Marion, fröhlich albernd in den Armen eines Unbekannten. Die Wut fährt ihm in die Glieder. Und die Enttäuschung. Erst gestern beteuerte sie, in den nächsten Tagen keine Zeit für ihn zu haben. Und jetzt tanzt sie unbekümmert mit anderen.
„Dieses Luder!“ flüstert er zornig und unbewußt.
Doch der ABV lenkt ihn ab: „Alles klar, wir können!“ und schiebt Brunk sanft aus dem Lokal.
„Schönen Abend noch, Genossen!“ heuchelt der Türbulle, ehe er den Eingang wieder verschließt.
Der ABV bemerkt Brunks plötzliche Schweigsamkeit sofort und vermutet, daß er ihm eine Erklärung schulde: „Ich habe dem Oberkellner nur eine Aufstellung der Achtundvierziger übergeben!“
Brunk sieht ihn fragend an.
„Kennst du wohl nicht?“
Brunk schüttelt den Kopf.
„Das sind unsere Kontrollpersonen“, erklärt der ABV, „die beschäftigen uns noch eine Weile!“ Er übergibt Brunk einen Zettel: „Hier, das sind sie!“
An einem hell erleuchteten Schaufenster überfliegt Brunk das Schriftstück mit den aufgelisteten Namen und Anschriften der unter besonderer Obhut der Polizei Stehenden. Dabei setzt der ABV seinen Kommentar fort: „Das ‚Mainzer Eck‘ ist tabu für diese Brüder, verstehst du! Deshalb waren wir jetzt dort. Die Kreuze an manchen Namen bedeuten, daß sie keinen Kontakt untereinander haben dürfen. Wenn du sie also mal zusammen siehst, machst du mir Meldung. Wer gegen die Auflagen verstößt, fährt wieder ein!“ Jetzt versteht Brunk: Auflagenverstoß bedeutet Knast.
Nach § 48 StGB konnte das Gericht als Zusatzstrafe für eine vorsätzliche Straftat sogenannte staatliche Kontrollmaßnahmen durch die VP anordnen, die Anfang der siebziger Jahre mindestens zwei Jahre andauerten und sich über fünf Jahre erstrecken konnten (in den achtziger Jahren wurde die Mindestdauer auf ein Jahr herabgesetzt). Im Polizeijargon wurde der Betreffende kurz „48er“ genannt.
Für ihn waren damit harte Auflagen verbunden: So war er zur regelmäßigen Meldung bei der VP verpflichtet. Er durfte den ihm zugewiesenen Wohn- oder Aufenthaltsort, aber auch seinen Arbeitsplatz ohne polizeiliche Genehmigung nicht verlassen bzw. wechseln. Ihm konnte untersagt werden, das Grenzgebiet zu betreten, bestimmte Gaststätten, Jahrmärkte oder andere polizeilich bedeutsame Orte zu besuchen oder Kontakt mit bestimmten Personen zu unterhalten. Jederzeit durfte die VP, ohne die ansonsten erforderliche prozeßrechtliche Anordnung, seine Aufenthaltsund Wohnräume durchsuchen. Der Willkür waren Tür und Tor geöffnet. Üblicherweise wurde der am Wohnort des Betreffenden zuständige ABV mit der „Betreuung der
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