El Chapo - Beith, M: Chapo - The Last Narco
nächtlichen Tête-à-têtes hatte er oft über das Schicksal, das ihn draußen erwartete, gesprochen.
Er hatte Feinde im ganzen Land. Die Arellano-Félix-Brüder aus Tijuana wollten ihn tot sehen, und die Beziehungen zwischen dem Sinaloa-Kartell und seinen Rivalen aus der mexikanischen Golfregion bargen stets Stoff für Spannungen. »Ihm war bewusst, dass man ihn umbringen könnte, wenn er floh, dass er dann auf dem Präsentierteller sitzen würde«, schilderte Hernández. »Er wusste, dass man in diesem Geschäft schnell die ganze Familie verlieren konnte. Ihm war klar, was ihn erwartete. Man kann nicht einfach sagen: ›Ich haue ab‹,
und das war’s dann. Flucht bedeutete, dass er sich für den Rest seines Lebens verstecken musste, dass er ständig auf der Hut sein musste.« 40
Von seinen Brüdern und seinen nächsten Verwandten abgesehen, war nie klar, ob Chapo seinen Leuten in Sinaloa ganz trauen konnte. Auch nicht den Beltrán-Leyva-Brüdern sowie Juan José Esparragoza Moreno, alias »El Azul« (»der Blaue«), und Ismael »El Mayo« Zambada García. Das Sinaloa-Kartell war nie eine verschworene Bruderschaft gewesen, seine Mitglieder arbeiteten in loser Form zusammen. Doch die Beltrán-Leyva-Brüder schickten Chapo immerhin Geld nach Puente Grande und halfen ihm dabei, durch Korruption seinen Lebensstil beizubehalten. Mittels Botschaften, die man ihm ins Gefängnis schickte, brachten die Capos des Sinaloa-Kartells schließlich zum Ausdruck, dass sie es begrüßten, wenn er sich wieder in die Führungsstruktur eingliederte. 41
Darauf musste er vertrauen.
Außerdem gab es Hinweise, dass Chapo doch nicht – wie von anderen behauptet – die komplette Kontrolle über Puente Grande ausübte. In seinen Briefen an Zulema ließ der Drogenbaron gelegentlich durchblicken, dass nicht alles in seiner Macht stand. Manchmal schrieb er, Treffen zu arrangieren sei lediglich eine Frage des Geldes, während er bei anderer Gelegenheit bedauerte, sie nicht treffen zu können, weil »wir vernünftig sein müssen«.
Natürlich ist es gut möglich, dass Chapo Hernández lediglich etwas vorgaukelte, während er sich in der Zwischenzeit mit anderen Frauen vergnügte. Für einen Mann seiner Herkunft war er jedenfalls ein großer Charmeur. Andererseits klangen seine Worte (auch wenn sie von einem Mithäftling niedergeschrieben worden waren) häufig nicht wie die eines Liebhabers, sondern wie die eines zielstrebigen Zuhälters. »Ich schicke dir einen Honigkuss und eine Umarmung, die dich vor Leidenschaft erzittern lässt«, schrieb er im Oktober 2000. 42
Eine interessante Theorie in Bezug auf Chapos Flucht besagt, er besitze so viele Informationen über die Bundesregierung und deren Verbindungen zu seiner Organisation und zu seinen Feinden, dass man ihn laufen lassen musste. Manche behaupten, Chapo habe gedroht, die Machenschaften der neuen Administration von Präsident Vicente Fox offenzulegen, der 2000 zum ersten Präsidenten gewählt wurde, der nicht der PRI angehörte. Eine andere These besagt, Chapo habe gewusst, dass ein Regierungswechsel seine Lage verbessern würde, da seine Widersacher, die Arellano-Félix-Brüder, angeblich auf gutem Fuß mit der PRI und der vorigen Regierung standen. 43
In einem seiner Briefe an Hernández deutete Chapo an, er wolle warten, bis Fox die Macht übernommen habe, ehe er die Sache in die Hand nehme: »Sie (die Fox-Administration) werden in der Lage sein, eine Menge Dinge zu arrangieren, in Angelegenheiten, die nicht so überschaubar sind wie deine … « 44
Der ehemalige Staatsanwalt für organisiertes Verbrechen, Samuel González Ruiz, nimmt an, dass Chapo dank seiner Intelligenz und seiner Gewitztheit entkommen konnte. Und natürlich aufgrund der Korruption in Regierungskreisen. Er insistiert, dass der Fluchtplan über den Zeitraum von vier Jahren entwickelt wurde. Chapo, so sagt er, habe einen Schwager sowohl zur mexikanischen Regierung als auch zur DEA geschickt, um einen Deal auszuhandeln. »Was können wir euch offerieren?«, soll der Schwager gefragt haben. »Da fanden ernsthafte Verhandlungen statt, und es wurde ein immenser Druck aufgebaut«, behauptet González Ruiz.
Chapo habe schließlich angeboten, die Arellano-Félix-Brüder ans Messer zu liefern, erklärt der ehemalige Staatsanwalt weiter. »Und die Gringos sind ihm in die Falle gegangen. Chapo hat die US-Botschaft eingewickelt. Er ist ein cleveres Bürschchen.«
Amerikanische Stellen bezeichnen die Behauptungen als
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