Elantris
konntet Ihr nicht ahnen, dass Shaor angreifen würde.«
Die Antwort gefiel Karata nicht, doch sie ging neben Raoden her, ohne ein weiteres Wort über die Angelegenheit zu verlieren.
»Sieh ihn dir an, Sule«, meinte Galladon neben ihm mit einem leichten Lächeln. »Ich hätte es niemals für möglich gehalten.«
Raoden sah auf und folgte dem Blick des Dulas. Taan kniete am Straßenrand und betrachtete mit kindlicher Freude die Meißelarbeiten an einer kleinen Mauer. Der untersetzte ehemalige Baron hatte die gesamte Woche damit verbracht, ein Verzeichnis jeder einzelnen Skulptur und Reliefarbeit im Kapellenviertel zu erstellen. Laut eigenen Worten hatte er bereits »mindestens ein Dutzend neuer Techniken« entdeckt. Zu den bemerkenswerten Veränderungen, die an Taan zu beobachten waren, gehörte sein plötzliches Desinteresse am Herrschen. Karata übte immer noch einen gewissen Einfluss auf die Gruppe aus. Zwar akzeptierte sie, dass letztendlich Raoden das Sagen hatte, doch sie war weiterhin eine wichtige Autorität. Taan hingegen gab überhaupt keine Befehle mehr. Er war viel zu sehr mit seinen Studien beschäftigt.
Taans Leuten - denjenigen, die sich Raoden angeschlossen hatten - schien dies nichts auszumachen. Laut Taans Schätzung hatte etwa ein Drittel seines »Hofes« in kleinen Grüppchen den Weg zu Raodens Bande gefunden. Raoden hoffte, dass die meisten anderen sich entschieden hatten, für sich zu bleiben. Der Gedanke, dass sich vielleicht siebzig Prozent von Taans großer Anhängerschaft Shaor angeschlossen haben könnten, wollte ihm gar nicht gefallen. Raoden hatte alle Leute aus Karatas Reihen, doch ihre Truppe war immer die kleinste - wenn auch die effizienteste - der drei Banden gewesen. Shaors Bande war immer am größten gewesen. Seinen Anhängern hatte es nur an Zusammenhalt und Motivation gefehlt, um die anderen Banden anzugreifen. Stattdessen hatten Shaors Männer ihre Blutgier immer wieder einmal an einem der Neuankömmlinge gestillt.
Doch das war jetzt vorbei. Raoden würde den Barbaren nicht ihr Viertel der Neuankömmlinge gewähren, würde nicht erlauben, dass sie unschuldige Menschen quälten. Karata und Saolin holten nun alle, die in die Stadt geworfen wurden, und brachten sie sicher zu Raodens Bande. Bisher hatten Shaors Männer nicht sonderlich begeistert reagiert - und Raoden fürchtete, dass es nur noch schlimmer werden würde.
Ich werde etwas unternehmen müssen, dachte er. Doch um dieses Problem würde er sich zu einem anderen Zeitpunkt kümmern. Im Moment musste er sich seinen Studien widmen.
Als sie die Kapelle erreichten, machte Galladon sich wieder ans Pflanzen, Saolins Männer bezogen ihre Wachtposten, und Karata entschied - trotz ihres Protestes von vorhin -, dass sie in den Palast zurückkehren sollte. Bald waren nur noch Raoden und Saolin übrig.
Dank des Kampfes und weil Raoden so lange ausgeschlafen hatte, war bereits mehr als die Hälfte des Tages vergeudet. Folglich stürzte er sich voller Eifer in seine Studien. Während Galladon säte und Karata den Palast evakuierte, war es Raodens selbst auferlegte Pflicht, so viel wie möglich über AonDor zu entziffern. Er war immer mehr der Überzeugung, dass die uralte Magie der Zeichen das Geheimnis des Falls von Elantris in sich barg.
Er griff durch eines der Kapellenfenster und zog den dicken AonDor-Band hervor, der drinnen auf einem Tisch lag. Bisher war der Wälzer nicht so hilfreich gewesen, wie Raoden es sich erhofft hatte. Es war kein Anleitungshandbuch, sondern eine Reihe von Fallstudien, die merkwürdige oder interessante Ereignisse erklärten, die mit AonDor zu tun hatten. Unglücklicherweise war das Ganze auf äußerst fortgeschrittenem Niveau gehalten. Im Großteil des Buches fanden sich Beispiele dessen, was nicht passieren sollte, sodass Raoden nur indirekt auf die Logik hinter AonDor schließen konnte.
Bisher hatte er nur sehr wenig in Erfahrung bringen können. Langsam schälte sich die Erkenntnis heraus, dass die Aonen nur den Anfangspunkt darstellten, die grundlegendsten Zeichen, die man malen konnte, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Genau wie das erweiterte Heilungs-Aon aus seinem Traum, bestand fortgeschrittenes AonDor daraus, dass man in der Mitte ein Basis-Aon zeichnete und anschließend andere Zeichen - manchmal bloß Punkte und Linien - außen herum hinzufügte. Die Punkte und Linien waren Klauseln, die die Zielrichtung der Macht erweiterten oder verengten. Durch sorgfältiges Zeichnen konnte ein Heiler
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