Elantris
Arelon die Wahrheiten der derethischen Religion annehmen musste.
Hrathen schritt die Landungsbrücke hinab. Jenseits der Hafenanlagen mit ihrem geschäftigen Treiben, dem Beladen und Entladen, erstreckte sich die Stadt Kae. Nicht weit dahinter konnte Hrathen eine hoch aufragende Steinmauer ausmachen - die alte Stadt Elantris. Auf der anderen Seite von Kae, links von Hrathen, stieg das Land steil zu einem großen Hügel an, einem Ausläufer des Dathrekigebirges. Dahinter lag der Ozean.
Insgesamt war Hrathen nicht sonderlich beeindruckt. In uralten Zeiten war Elantris von vier kleinen Städten umgeben gewesen, doch nur Kae, die neue Hauptstadt von Arelon, war noch bewohnt. Kae war zu unorganisiert, zu weitläufig, um sich gut verteidigen zu lassen, und die einzige Befestigung schien eine schmale, anderthalb Meter hohe Mauer aus Steinen zu sein - mehr eine Umgrenzung als ein echter Schutzwall.
Sich bei einem Angriff nach Elantris zurückzuziehen wäre schwierig und würde kaum Wirkung zeigen. Kaes Häuser böten einem einfallenden Heer wunderbar Deckung, und ein paar der Gebäude am Stadtrand von Kae grenzten beinahe an die Mauer von Elantris. Dies war keine Nation, die an Krieg gewöhnt war. Dennoch war von allen Königreichen des Kontinents Sycla - der vom arelischen Volk Opelon genannt wurde - nur Arelon der Dominierung durch das fjordellische Reich entgangen. Selbstverständlich war auch das ein Umstand, den Hrathen demnächst ändern würde.
Als Hrathen von dem Schiff wegmarschierte, erregte seine Anwesenheit bei den Menschen einiges Aufsehen. Arbeiter hielten in ihrem Treiben inne und starrten ihn beeindruckt und voller Staunen an. Gespräche verstummten bei seinem Anblick. Hrathen verlangsamte seine Schritte für niemanden, aber da die Leute ihm rasch den Weg frei machten, kam es zu keinen Zwischenfällen. Es mochte an seinen Augen liegen, allerdings war es wahrscheinlich wohl eher seine Rüstung. Sie glitzerte im Sonnenlicht blutrot; der Plattenpanzer eines Hohepriesters des Derethischen Reiches war selbst dann noch ein imposanter Anblick, wenn man daran gewöhnt war.
Als er schon glaubte, allein den Weg zu der derethischen Kapelle der Stadt finden zu müssen, bemerkte er einen roten Heck, der sich durch die Menschenmenge schlängelte. Der Fleck wurde schon bald zu einer gedrungenen, in rote Derethigewänder gekleideten Gestalt mit beinahe kahlem Schädel. »Mylord Hrathen!«, rief der Mann.
Hrathen blieb stehen und ließ Fjon, Kaes derethischen Oberartethen, näher kommen. Schnaufend wischte Fjon sich mit einem Seidentaschentuch über die Stirn. »Es tut mir schrecklich leid, Euer Gnaden. Im Hafenregister stand, dass Ihr auf einem anderen Schiff eintreffen würdet. Ich habe erst herausgefunden, dass Ihr nicht an Bord seid, als sie mit dem Entladen schon halb fertig waren. Leider musste ich die Kutsche zurücklassen; ich habe sie einfach nicht durch die Menschenmenge gebracht.«
Unwillig kniff Hrathen die Augen zusammen, sagte aber nichts. Fjon fuhr kurz mit seinem Geschwätz fort, dann entschied er sich endlich, Hrathen zu der derethischen Kapelle zu führen. Er entschuldigte sich erneut dafür, dass ihnen kein Gefährt zur Verfügung stand. Hrathen folgte seinem untersetzten Führer gemessenen Schrittes - und unzufrieden. Fjon trottete mit einem Lächeln auf den Lippen voran, winkte gelegentlich Passanten auf der Straße und rief ihnen Nettigkeiten zu. Die Leute erwiderten seinen Gruß - jedenfalls bis sie Hrathen in seinem blutroten Gewand erspähten, das sich hinter ihm bauschte, und in seiner übertriebenen Rüstung mit ihren harten Linien. Bei seinem Anblick verstummten sie, die Grußworte erstarben, und die Menschen folgten Hrathen mit den Augen, bis er an ihnen vorbeigegangen war. So sollte es sein.
Die Kapelle war ein hohes steinernes Bauwerk, mit leuchtend roten Wandteppichen und hohen Türmen. Hier endlich fand Hrathen etwas von der majestätischen Erhabenheit, an die er gewöhnt war. Im Innern erwartete ihn jedoch ein beunruhigender Anblick: eine Gruppe Leute, die sich einer gewissen Geselligkeit befleißigten. Menschen irrten ziellos umher, lachten und machten Witze, ohne der heiligen Stätte, in der sie sich befanden, auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Das war zu viel! Hrathen hatte die Berichte vernommen und ihnen Glauben geschenkt. Hier war nun die Bestätigung.
»Arteth Fjon, versammelt Eure Priester!«, befahl Hrathen. Es waren die ersten Worte, die er seit seiner Ankunft
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