Elantris
rühren konnte, würde es ihr vielleicht beim restlichen Hof ebenfalls gelingen.
Während Sarene weiterarbeitete, bemerkte sie, dass der Mann namens Lebensgeist im Rücken der Menschenmenge stand. Nachdenklich fasste er sich ans Kinn und betrachtete sie. Er wirkte ... besorgt. Aber warum? Worum musste er sich Sorgen machen? In diesem Moment, als Sarene ihm in die Augen starrte, erkannte sie die Wahrheit. Er war kein Gefolgsmann. Er war der Anführer, und aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, diesen Umstand vor ihr verbergen zu müssen.
Also tat Sarene genau das, was sie immer tat, wenn sie erfuhr, dass jemand ein Geheimnis vor ihr verbarg. Sie versuchte herauszufinden, um was es sich bei diesem Geheimnis handelte.
»Etwas stimmt nicht mit ihm, Ashe«, sagte Sarene, die vor dem Palast stand und zusah, wie der leere Karren fortgezogen wurde. Es war kaum zu glauben, dass sie einen Mittag lang geschuftet hatten und dabei doch nicht viel herausgekommen war. Bis morgen Mittag würde das Essen spätestens vertilgt sein - wenn es nicht jetzt schon verspeist war.
»Mit wem, Mylady?«, fragte Ashe. Er hatte die Essensausgabe oben von der Mauer aus beobachtet, nicht weit entfernt von der Stelle, von der aus Iadon dem Geschehen zusah. Selbstverständlich hatte Ashe sie begleiten wollen, aber sie hatte es verboten. Das Seon war ihre Hauptinformationsquelle, was Elantris und dessen Anführer betraf, und sie wollte nicht, dass man sie allzu leicht miteinander in Verbindung brachte.
»Unserem ursprünglichen Führer«, erklärte Sarene. Sie drehte sich um und schlenderte durch den gobelinbehangenen Eingangsbereich des königlichen Palasts. Sie konnte Iadons ausgesprochene Vorliebe für Gobelins nicht teilen.
»Dem Mann namens Lebensgeist?«
Sarene nickte. »Er hat so getan, als würde er die Befehle der anderen befolgen, aber er ist kein Diener. Aanden hat ihm im Laufe der Verhandlungen immer wieder Blicke zugeworfen, als wolle er sich bei ihm versichern. Meinst du, wir haben uns bei den Namen der Anführer geirrt?«
»Das ist möglich, Mylady«, gab Ashe zu. »Doch die Elantrier, mit denen ich gesprochen habe, schienen sich sehr sicher zu sein. Karata, Aanden und Shaor lauteten die Namen, die ich mindestens ein Dutzend Mal gehört habe. Einen Mann namens Lebensgeist hat niemand erwähnt.«
»Hast du in letzter Zeit mit diesen Leuten gesprochen?«, fragte Sarene.
»Ich habe meine Bemühungen auf die Wachleute konzentriert«, sagte Ashe und schwebte zur Seite, als ein Bote an ihm vorbeieilte. Die Leute neigten dazu, Seonen im Gegensatz zu menschlichen Dienern keinerlei Beachtung zu schenken. Ashe nahm dieses unhöfliche Verhalten ohne die geringste Klage hin und fuhr seelenruhig mit ihrem Gespräch fort.
»Die Elantrier wollten nicht mehr als Namen herausrücken, Mylady. Die Wachmänner hingegen haben ihre Meinungen nur allzu gern zum Besten gegeben. Sie haben den ganzen Tag über nicht viel zu tun, außer die Stadt zu bewachen. Ihre Beobachtungen und die Namen habe ich kombiniert und an Euch weitergegeben.«
Sarene schwieg einen Augenblick und lehnte sich an eine Marmorsäule. »Er hat etwas zu verbergen.«
»O je«, murmelte Ashe. »Mylady, meint Ihr nicht, dass Ihr Euch vielleicht ein wenig übernehmt? Ihr habt beschlossen, dem Gyorn die Stirn zu bieten, die Hofdamen von der patriarchalischen Unterdrückung zu befreien, die arelische Wirtschaft zu retten und Elantris mit Nahrung zu versorgen. Vielleicht solltet Ihr die List dieses einen Mannes auf sich beruhen lassen.«
»Du hast recht«, sagte Sarene. »Ich bin zu beschäftigt, um mich auch noch um ihn zu kümmern. Deshalb wirst du herausfinden, was er im Schilde führt.«
Ashe seufzte.
»Kehre in die Stadt zurück«, sagte Sarene. »Du musst dich bestimmt nicht sehr weit hineinwagen. Viele Elantrier lungern in der Nähe des Tores herum. Frage sie nach Lebensgeist und versuche, etwas über das Abkommen zwischen Karata und Aanden herauszubekommen.«
»Sehr wohl, Mylady.«
»Ich frage mich, ob wir Elantris eventuell falsch eingeschätzt haben«, sagte Sarene.
»Ich weiß nicht recht, Mylady«, meinte Ashe. »Es ist ein äußerst barbarischer Ort. Ich habe selbst etliche grauenhafte Taten mit angesehen, und mir sind die Auswirkungen anderer brutaler Akte aufgefallen. Jeder in der Stadt ist auf die eine oder andere Art verwundet; und dem allgemeinen Stöhnen nach zu schließen, handelt es sich um schwere Verletzungen. Kämpfen muss dort an der Tagesordnung sein.«
Sarene nickte
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