Elantris
ob Telrii die Frage tatsächlich aus Habgier gestellt hatte oder einfach nur, weil er gewusst hatte, wie Raoden auf die Forderung reagieren würde.
Raoden drehte sich zu den anderen Adeligen um. Wie gewöhnlich standen die Neuankömmlinge in einem kleinen, ängstlichen Grüppchen um den Karren, den sie entladen hatten. Nun war Raoden an der Reihe. Er ging mit einem Lächeln auf sie zu, stellte sich vor und schüttelte ihnen die Hände - größtenteils gegen den Willen der Leute. Doch ihre Anspannung begann sich schon nach wenigen Minuten in seiner Gegenwart zu lösen. Ihnen wurde klar, dass es wenigstens einen Elantrier gab, der sie nicht auffressen würde, und keiner der anderen Essensverteiler war der Shaod anheim gefallen. Folglich brauchten sie sich keine Sorgen wegen einer Ansteckung zu machen.
Der Menschenpulk entspannte sich und ergab sich Raodens leutseligem Wesen. Er hatte es sich zu seiner persönlichen Aufgabe gemacht, die Adeligen einzugewöhnen. Am zweiten Tag war klar geworden, dass Sarene bei Weitem nicht so viel Einfluss auf die meisten Adeligen hatte wie auf Shuden und die anderen aus Raodens ehemaligem Kreis. Wenn Raoden nicht eingesprungen wäre, würde diese zweite Gruppe wahrscheinlich immer noch starr vor Schreck neben dem Karren stehen. Sarene hatte sich bei ihm nicht für seine Anstrengungen bedankt, doch sie hatte ihm kaum merklich anerkennend zugenickt. Danach war es automatisch Raoden zugefallen, sämtlichen adeligen Neuankömmlingen so zu helfen, wie er es am zweiten Tag getan hatte.
Es kam ihm merkwürdig vor, dass ausgerechnet er bei dem Ereignis mithalf, das all seine Anstrengungen zunichte machte, etwas in Elantris aufzubauen. Doch es gab nicht viel, was er tun konnte, um Sarene aufzuhalten, wenn er keine gewaltige Auseinandersetzung riskieren wollte. Außerdem erhielten Mareshe und Karata lebenswichtige Waren für ihre »Mitarbeit«. Nach Sarenes Witwenprüfüng würde Raoden einiges neu aufbauen müssen, aber es würde es wert sein, die Rückschläge wieder auszugleichen. Natürlich nur gesetzt den Fall, dass er lange genug überlebte.
Der beiläufige Gedanke rief ihm jäh seine Schmerzen ins Bewusstsein. Sie waren immer da, versengten sein Fleisch und nagten an seiner Entschlossenheit. Er zählte sie nicht länger, obwohl sich jeder einzelne Schmerz anders anfühlte - begrifflich schwer zu fassen, ein Gefühl individueller Qualen. Soweit er es beurteilen konnte, nahmen seine Schmerzen viel schneller zu als die aller anderen. Ein Kratzer an seinem Arm fühlte sich wie eine tiefe Wunde von der Schulter bis zu den Fingern an, und der Zeh, den er sich einst angehauen hatte, brannte mit einem Feuer, das bis zu seinem Knie hinaufloderte. Es war, als sei er seit einem ganzen Jahr in Elantris und nicht erst seit einem einzigen einsamen Monat.
Vielleicht waren seine Schmerzen aber auch gar nicht stärker. Vielleicht war er bloß schwächer als die anderen. So oder so würde er es nicht mehr viel länger aushalten. Der Tag würde bald kommen, in ein oder vielleicht zwei Monaten, an dem er nicht aus seinen Schmerzen erwachen würde und man ihn in den Saal der Gefallenen legen müsste. Dort würde er sich endlich ganz seinen eifersüchtigen Qualen hingeben können.
Diese Gedanken stieß er nun von sich und zwang sich stattdessen, mit der Essensvergabe anzufangen. Er versuchte, sich von der Arbeit ablenken zu lassen, und es half tatsächlich ein wenig. Doch die Schmerzen lauerten immer noch in seinem Innern, wie ein Untier, das sich im Schatten versteckte und dessen rote Augen entsetzlich hungrig auf seinem Opfer ruhten.
Jeder Elantrier erhielt einen kleinen Beutel mit verschiedenen Nahrungsmitteln, die fertig zubereitet und sofort genießbar waren. Die Rationen an diesem Tag unterschieden sich kaum von den sonstigen. Überraschenderweise war es Sarene jedoch gelungen, jindoesische Sauermelonen aufzutreiben. Die faustgroßen roten Früchte glänzten in der Kiste neben Raoden, obwohl eigentlich gar keine Melonenzeit war. Er ließ eine Frucht in jeden Beutel fallen. Außerdem folgten gedünsteter Mais, verschiedene Gemüsesorten und ein kleiner Brotlaib.
Die Elantrier nahmen die Gaben dankbar, aber gierig entgegen. Die meisten huschten nach Erhalt der Mahlzeit davon, um sie ungestört verspeisen zu können. Sie konnten es noch immer nicht fassen, dass niemand ihnen das Essen wieder wegnehmen würde.
Während Raoden arbeitete, tauchte ein bekanntes Gesicht vor ihm auf. Galladon trug seine
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