Elantris
Gefühl beschlich, dass diese Vorsicht übertrieben war, musste er bloß eine der zahlreichen Gestalten betrachten, die zusammengekauert in der Gosse und an Straßenecken lagen, und seine Entschlossenheit kehrte wieder zurück.
Galladon nannte sie die Hoed: diejenigen Elantrier, die den Schmerzen erlegen waren. Nachdem sie wahnsinnig geworden waren, bestand ihr Leben nur mehr aus ständigen, unerbittlichen Qualen. Sie bewegten sich kaum; allerdings verfügten manche über ausreichend primitive Instinkte, um zusammengekauert im schützenden Schatten zu verharren. Die meisten von ihnen verhielten sich leise, auch wenn nur wenige völlig still waren. Im Vorübergehen konnte Raoden ihr Gemurmel, Schluchzen und Gewinsel hören. Die meisten schienen Wörter und Sätze zu wiederholen, ein Mantra, das ihr Leiden begleitete.
»Domi, Domi, Domi ...«
»So schön, einst so wunderschön ...«
»Aufhören, aufhören, aufhören. Es soll aufhören ...«
Raoden zwang sich, nicht auf die Worte zu achten. Seine Brust begann sich zusammenzuziehen, als leide er mit den jämmerlichen, gesichtslosen Wesen. Wenn er zu sehr auf sie achtete, würde er lange, bevor die Schmerzen ihn übermannten, den Verstand verlieren.
Doch wenn er seinen Gedanken freien Lauf ließ, wandten sie sich stets seinem Leben draußen zu. Würden seine Freunde ihre heimlichen Treffen fortsetzen? Waren Kiin und Roial in der Lage, die Gruppe zusammenzuhalten? Und was war mit seinem besten Freund, Lukel? Raoden hatte kaum Gelegenheit gehabt, dessen neue Frau kennenzulernen. Nun würde er niemals ihr erstes Kind zu Gesicht bekommen.
Schlimmer noch waren die Gedanken an seine eigene Hochzeit. Er war der Frau, die er heiraten sollte, nie persönlich begegnet, doch er hatte des Öfteren per Seon mit ihr gesprochen. War sie tatsächlich so geistreich und interessant, wie es den Anschein gehabt hatte? Er würde es niemals herausfinden. Iadon hatte Raodens Verwandlung wahrscheinlich vertuscht und so getan, als sei sein Sohn tot. Nun würde Sarene gar nicht erst nach Arelon kommen. Wenn sie die Neuigkeiten erfuhr, würde sie in Teod bleiben und sich einen anderen Bräutigam suchen.
Wenn ich sie nur hätte treffen können, nur ein einziges Mal! Doch solche Gedanken führten zu nichts. Jetzt war er Elantrier.
Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Stadt selbst. Es war schwer vorstellbar, dass Elantris einst die schönste Stadt in Opelon, ja wahrscheinlich auf der ganzen Welt gewesen war. Jetzt war nur der Schmutz zu sehen - die Fäulnis und der Verfall. Doch unter dem Dreck waren die Überbleibsel von Elantris' ehemaliger Größe. Ein Turm, die Überreste eines kunstvoll gearbeiteten Wandreliefs, prächtige Kapellen und gewaltige Herrenhäuser, Pfeiler und Torbogen. Vor zehn Jahren war die Stadt noch in ihrem eigenen mystischen Glanz erstrahlt, eine Stadt aus purem Weiß und Gold.
Niemand wusste, was die Reod hervorgerufen hatte. Es gab Leute, hauptsächlich derethische Priester, die annahmen, dass der Fall von Elantris Gottes Werk war. Die Elantrier vor der Reod hatten wie Götter gelebt; zwar hatten sie andere Religionen in Arelon zugelassen, doch sie hatten sie auf die gleiche Weise geduldet, wie ein Herr seinen Hund Essen auflecken lässt, das auf den Boden gefallen ist. Die Schönheit von Elantris, die Kräfte, über die seine Bewohner verfügt hatten, hatten das Volk in der Regel davon abgehalten, zum Shu-Keseg überzutreten. Warum eine unsichtbare Gottheit suchen, wenn man Götter vor der eigenen Nase leben hatte?
Es hatte mit einem Sturm angefangen, an so viel konnte sich sogar Raoden noch erinnern. Der Erdboden selbst war zerborsten, und im Süden hatte sich ein gewaltiger Abgrund aufgetan, während ganz Arelon bebte. Im Zuge der Zerstörung hatte Elantris seine Herrlichkeit eingebüßt. Die Elantrier hatten sich von glänzenden weißhaarigen Wesen in Kreaturen mit fleckiger Haut und Glatzen verwandelt
- wie Menschen, die an einer schrecklichen Krankheit litten, die bereits ihr Endstadium erreicht hatte. Elantris hatte zu leuchten aufgehört und war stattdessen dunkel geworden.
Und das hatte sich vor lediglich zehn Jahren zugetragen. Zehn Jahre waren keine derart lange Zeit. Stein dürfte nicht nach nur einem Jahrzehnt der Verwahrlosung zerbröckeln. Der Schmutz hätte sich nicht so rasch anhäufen dürfen - nicht bei so wenigen Bewohnern, von denen sich ein Großteil kaum bewegen konnte. Es war, als sei Elantris vorsätzlich darauf aus zu sterben: eine
Weitere Kostenlose Bücher