Elantris
sie auf das Tor zuzuführen. Sie
widersetzte sich und stemmte sich mit gleicher Kraft dagegen. »Ich werde nicht gehen!« Raoden drehte sich überrascht um. »Aber Ihr müsst gehen. Dies ist Elantris, Sarene!
Keiner ist freiwillig hier.«
»Das ist mir egal«, meinte sie beharrlich. Ihre Stimme war voll trotziger
Entschlossenheit. »Ich werde bleiben.«
»Arelon braucht Euch.«
»Arelon wird es ohne mich besser ergehen. Ohne meine Einmischung wäre Iadon
immer noch König, und Telrii hätte nicht den Thron bestiegen.«
Raoden verstummte. Er wollte, dass sie blieb, ja er sehnte sich danach, dass sie
blieb. Aber er würde alles daran setzen, sie aus Elantris zu schaffen. Die Stadt
bedeutete den Tod.
Das Stadttor ging auf. Der Gyorn hatte seine Beute entdeckt.
Sarene betrachtete Raoden mit großen Augen. Ihre Hand näherte sich seinem
Gesicht. Ihre Flecken waren mittlerweile beinahe vollständig verschwunden. Sie war
wunderschön.
»Ihr glaubt, wir können es uns leisten, Euch zu ernähren, Prinzessin?«, Raoden
zwang sich dazu, barsch zu klingen. »Dass wir Essen an eine Frau verschwenden
werden, die keine von uns ist?«
»Das zieht bei mir nicht, Lebensgeist«, versetzte Sarene. »Ich kann die Wahrheit in
Euren Augen sehen.«
»Dann hört Euch diese Wahrheit an«, sagte Raoden. »Trotz der strengen Rationen
verfügt Neu-Elantris nur über genug Essen für ein paar Wochen. Wir haben Getreide
angebaut, aber es wird Monate dauern, bis wir es ernten können. Währenddessen
werden wir Hunger leiden. Alle: Männer, Frauen und Kinder. Wir werden hungern, wenn
uns nicht jemand von draußen mit weiteren Vorräten versorgen kann.«
Sie zögerte. Dann war sie in seinen Armen und schmiegte sich eng an seine Brust.
»Verflucht sollst du sein«, zischte sie. »Domi möge dich verfluchen.«
»Arelon braucht dich, Sarene«, erwiderte er flüsternd. »Wenn es stimmt, was du
sagst, und ein Mann auf dem Thron sitzt, der mit Fjorden sympathisiert, bleibt Elantris
vielleicht nicht mehr viel Zeit. Du weißt, was die derethischen Priester uns antun
würden, wenn es nach ihnen ginge. Die Lage in Arelon ist völlig aus dem Ruder
geraten, Sarene, und du bist die Einzige, der ich zutraue, dem Abhilfe zu schaffen.« Sie blickte ihm in die Augen. »Ich werde zurückkehren.«
Männer in Gelb und Braun liefen auf sie zu und rissen sie auseinander. Sie stießen
Raoden zur Seite, und er fiel auf das rutschige Kopfsteinpflaster, als die Gestalten
Sarene fortzerrten. Raoden blieb auf dem Rücken liegen. Die schmutzige
Schleimschicht unter ihm schmatzte. Er blickte zu einem Mann in blutroter Rüstung
empor. Der Gyorn stand einen Augenblick still da, dann drehte er sich um und folgte
Sarene aus der Stadt. Das Tor fiel krachend hinter ihm ins Schloss.
Kapitel 47
Das Tor fiel krachend zu. Dieses Mal sperrte man Sarene nicht in Elantris ein, sondern man sperrte sie aus der Stadt aus. Ihre Gefühle rissen an ihrer Seele wie ein Rudel hungriger Wölfe, von denen jeder nach ihrer Aufmerksamkeit verlangte. Vor fünf Tagen hatte sie geglaubt, ihr Leben sei zerstört. Sie hatte sich gewünscht, geheilt zu werden, und hatte zu Domi gebetet und ihn angefleht. Doch jetzt sehnte sie sich danach, in ihre Verdammnis zurückzukehren, solange nur Lebensgeist dort war.
Doch Domi hatte die Entscheidung für sie getroffen. Lebensgeist hatte recht: Sie konnte genauso wenig in Elantris leben, wie er außerhalb der Stadt existieren konnte. Ihre Welten und die Bedürfnisse ihrer sterblichen Hüllen waren zu unterschiedlich.
Eine Hand legte sich ihr schwer auf die Schulter. Sarene schüttelte ihre Benommenheit ab und drehte sich um. Es gab nicht viele Männer, die so groß waren, dass Sarene den Hals recken musste, um zu ihnen aufzublicken. Hrathen.
»Jaddeth hat Euch errettet, Prinzessin«, sagte er mit seinem leichten Akzent. Sarene schüttelte seinen Arm ab. »Ich weiß nicht, wie Ihr das angestellt habt, Priester, aber ich weiß eines mit absoluter Gewissheit: Ich bin Eurem Gott nicht das
Geringste schuldig.«
»Euer Vater ist da anderer Meinung, Prinzessin«, sagte Hrathen mit strenger Miene. »Für einen Mann, dessen Religion angeblich die Wahrheit verbreitet, Priester, sind
Eure Lügen auffällig vulgär.«
Hrathens Mund verzog sich zu einem dünnen Lächeln. »Lügen? Warum sprecht Ihr
nicht selbst mit ihm? In gewisser Hinsicht ließe sich wohl sagen, dass Ihr uns Teod
beschert habt. Man bekehre den König und oft hat man das ganze Königreich
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