Elantris
Jahre zumindest am Rande. Ich hätte gedacht, dass die Elantrier andere Religionen sorgfältig
studieren, und sei es nur, um zu wissen, mit wem man es zu tun hat.«
»Soviel ich weiß, hat Konkurrenz den Elantriern im Grunde nie etwas ausgemacht«, sagte Raoden.
Beim Sprechen verrutschte ihm leicht der Finger und unterbrach die Linie, die Raoden gerade zeichnete.
Das Aon blieb einen Augenblick in der Luft, dann verblasste es, da der Fehler den ganzen Aufbau
hinfällig gemacht hatte. Er stieß ein Seufzen aus, bevor er mit seiner Erklärung fortfuhr. »Für die Elantrier
war ihre eigene Überlegenheit derart offensichtlich, dass sie sich keine Sorgen um andere Religionen
machen mussten. Den meisten war es sogar egal, ob man sie verehrte oder nicht.«
Sarene grübelte über seine Worte nach, blickte dann wieder in ihr Buch und schob den leeren Teller
beiseite, auf dem sich ihre Nachmittagsration befanden hatte. Raoden sagte ihr nicht, dass er ihre
Nahrungsrationen reduzierte, wie er es bei jedem Neuankömmling im Laufe der ersten
Woche tat. Aus Erfahrung wusste er, dass eine allmähliche Drosselung der
Nahrungszufuhr es dem Verstand erleichterte, sich an den Hunger zu gewöhnen. Er fing wieder zu zeichnen an. Kurz darauf öffnete sich die Bibliothekstür. »Ist er
immer noch dort oben?«, fragte Raoden, als Galladon den Raum betrat. »Kolo«, erwiderte der Dula. »Schreit immer noch seinen Gott an.«
»Du meinst, er betet.«
Galladon zuckte die Achseln und schlenderte zu einem Platz neben Sarene. »Man
würde meinen, ein Gott könnte ihn hören, egal, wie leise er spräche.«
Sarene blickte von ihrem Buch empor. »Sprecht Ihr von dem Gyorn?« Raoden nickte. »Er steht seit dem frühen Morgen auf der Mauer über dem Tor.
Anscheinend fleht er seinen Gott an, uns zu heilen.«
Sarene zuckte zusammen. »Uns zu heilen?«
»Etwas in der Art«, sagte Raoden. »Wir können ihn nicht allzu gut verstehen.« »Elantris heilen? Das ist ja ganz was Neues.« Ihre Augen blickten argwöhnisch. Raoden zuckte mit den Schultern und fuhr fort, Aonen zu zeichnen. Galladon suchte
sich ein Buch über Landwirtschaft heraus und blätterte aufmerksam darin herum. In den letzten Tagen hatte er versucht, sich eine Methode künstlicher Bewässerung
auszudenken, die auch unter ihren besonderen Umständen funktionieren würde. Als Raoden ein paar Minuten später das Aon und dessen modifizierende Zeichen
beinahe fertig hatte, merkte er, dass
Sarene ihr Buch weggelegt hatte und ihn fasziniert beobachtete. Unter ihrem
prüfenden Blick machte er erneut einen Fehler, und das Aon verblasste, noch bevor ihm
klar geworden war, was er getan hatte. Sie betrachtete ihn noch immer, als er die Hand
hob, um das Aon Ehe erneut anzufangen.
»Was?«, fragte er endlich. Instinktiv beschrieben seine Finger die ersten drei
Bewegungen: die Linie oben, eine Linie seitlich nach unten und der Punkt in der Mitte,
die den Anfang eines jeden Aons darstellten.
»An diesem einen Aon zeichnet Ihr nun schon eine Stunde lang rum«, stellte sie fest. »Ich will es richtig hinbekommen.«
»Aber das habt Ihr, bestimmt ein Dutzend Mal hintereinander.«
Raoden zuckte die Achseln. »Es hilft mir beim Nachdenken.«
»Nachdenken worüber?«, erkundigte sie sich neugierig. Allem Anschein nach
langweilte sie das Alte Reich mittlerweile.
»In letzter Zeit hauptsächlich über AonDor. Ich verstehe mittlerweile den größten Teil
der Theorie, aber einer Erklärung für die Blockade des Dors bin ich noch immer keinen
Schritt näher gekommen. Ich habe das Gefühl, dass die Aonen sich verändert haben,
dass die alten Muster nicht mehr ganz stimmen, aber ich kann mir nicht einmal im
Ansatz erklären, was der Grund dafür sein könnte.«
»Vielleicht stimmt etwas mit dem Land nicht«, meinte Sarene spontan. Sie lehnte
sich in ihrem Sessel zurück, sodass er nach hinten wippte.
»Was meint Ihr damit?«
»Nun«, mutmaßte Sarene, »Ihr geht doch davon aus, dass die Aonen und das Land
miteinander verbunden sind. Übrigens hätte selbst ich Euch das sagen können.« »Ach ja?«, fragte Raoden lächelnd, während er weiterzeichnete. »Haben zu Eurer
Erziehung als Prinzessin auch ein paar geheime Stunden in elantrischem Zauber
gehört?«
»Nein«, sagte Sarene und schüttelte theatralisch den Kopf. »Aber das Erlernen von
Aonen hat schon dazugehört. Am Anfang jedes Aons zeichnet man ein Bild von Arelon.
Das habe ich als kleines Mädchen gelernt.«
Raoden erstarrte. Seine Hand hielt mitten in der
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