Elantris
setzte der Mann an.
»Sprich nur weiter«, ermunterte Raoden ihn.
»Nun, Eure Lordschaft, mir sind da so einige Sachen zu Ohren gekommen, und ich habe mich gefragt, ob ich mich Euch vielleicht anschließen könnte.«
Lächelnd erhob Raoden sich und ging auf den Mann zu. »Gewiss könnt Ihr Euch uns anschließen. Was ist Euch denn zu Ohren gekommen?«
»Nun ...« Der betagte Elantrier wand sich nervös. »Manche Leute auf der Straße sagen, dass deine Anhänger nicht so hungrig sind. Man sagt, du verfügst über ein Geheimnis, das die Schmerzen vertreibt. Ich bin nun schon seit beinahe einem Jahr in Elantris, Mylord, und meine Verletzungen werden mir mittlerweile fast zu viel. Da habe ich mir gedacht, ich könnte entweder Euch eine Chance geben oder mir ein Plätzchen in der Gosse suchen und mich den Hoed anschließen.«
Raoden nickte und legte dem Mann die Hand auf die Schulter. Sein Zeh brannte noch immer - allmählich gewöhnte er sich zwar an den Schmerz, aber er verschwand niemals. Begleitet wurde das Ganze von der nagenden Pein in seinem Magen. »Ich bin froh, dass Ihr hergekommen seid. Wie heißt Ihr?«
»Kahar, Mylord.«
»Also gut, Kahar, was habt Ihr gemacht, bevor die Shaod Euch ereilt hat?«
Kahar blickte ins Leere, als befinde er sich in Gedanken auf einer Reise in eine weit entfernte Vergangenheit. »Ich muss wohl geputzt haben, Mylord. Ich glaube, ich habe Straßen gefegt.«
»Wunderbar! Auf jemanden mit Euren besonderen Fähigkeiten habe ich gewartet. Mareshe, seid Ihr da hinten?«
»Ja, Mylord«, rief der spindeldürre Kunsthandwerker aus einem der Hinterzimmer. Einen Augenblick später erschien sein Kopf im Türrahmen.
»Hat sich in den Auffangvorrichtungen, die Ihr installiert habt, zufälligerweise etwas von dem Regen letzte Nacht gesammelt?«
»Selbstverständlich, Mylord«, sagte Mareshe ungehalten.
»Gut. Zeigt Kahar hier, wo das Wasser ist.«
»Sicher.« Mareshe winkte Kahar, ihm zu folgen.
»Was soll ich mit Wasser anfangen, Mylord?«, wollte Kahar wissen.
»Es ist Zeit, dass wir aufhören, inmitten von Schleim und Dreck zu leben, Kahar«, sagte Raoden. »Der Schmutz, der Elantris bedeckt, lässt sich entfernen. Ich habe einen Ort gesehen, an dem das geschehen ist. Lasst Euch Zeit und überanstrengt Euch nicht, aber putzt dieses Gebäude Zentimeter für Zentimeter. Kratzt jedes bisschen Dreck ab und wascht jeden Schmutzpartikel fort.«
»Und dann werdet Ihr mir das Geheimnis zeigen?«, fragte Kahar hoffnungsvoll.
»Vertraut mir.«
Kahar nickte und folgte Mareshe aus dem Saal. Raodens Lächeln verlor sich, als der Mann fort war. Das Schwierigste an seinem Anführerdasein hier in Elantris war, seine optimistische Grundhaltung zu bewahren, derentwegen Galladon ihn immer aufzog. Diese Menschen, selbst die Neuankömmlinge, standen gefährlich knapp davor, die Hoffnung aufzugeben. Sie glaubten, verdammt zu sein, und gingen davon aus, dass nichts ihre Seelen davor bewahren konnte, wie Elantris selbst zu verfaulen. Raoden kämpfte gegen viele Jahre alte
Vorurteile und die allgegenwärtigen Kräfte von Hunger und Schmerz an.
Er hatte sich selbst nie als übermäßig fröhlichen Menschen betrachtet. Doch hier in Elantris reagierte Raoden mit kämpferischem Optimismus auf die vorherrschende Atmosphäre der Verzweiflung. Je schlimmer die Dinge wurden, desto entschlossener war er, ohne Klagen damit fertig zu werden. Doch die erzwungene Fröhlichkeit hatte ihren Preis. Er konnte spüren, wie sich die anderen, selbst Galladon, auf ihn verließen. Als einziger Mensch in ganz Elantris durfte Raoden seine Schmerzen nicht offen zeigen. Der Hunger nagte in seiner Brust wie ein Insektenschwarm, der nach draußen gelangen wollte, und die Schmerzen von etlichen Verletzungen untergruben gnadenlos seine Entschlossenheit.
Er war sich nicht sicher, wie lange er es noch aushalten würde. Nach knappen anderthalb Wochen in Elantris waren die Schmerzen bereits so stark, dass es manchmal schwierig war, sich zu konzentrieren. Wie lange würde es dauern, bis er gar nicht mehr funktionierte? Oder wie lange, bis er wie Shaors Männer zu einem Tier degenerierte? Eine Frage bereitete ihm größere Angst als alle anderen: Wenn er fiel, wie viele Menschen würden mit ihm fallen?
Und dennoch musste er die Last tragen. Wenn er nicht die Verantwortung übernahm, würde es niemand tun, und diese Menschen würden Sklaven ihrer Qualen oder der brutalen Schläger auf den Straßen werden. Elantris brauchte ihn. Wenn es ihn verbrauchte,
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