Elben Drachen Schatten
Dann wurde die Stimme abrupt leiser. Edro konnte ihre letzten Worte nicht mehr verstehen. Noch mehrmals fragte er nach dem Namen des Landes, zu dem das rote Schiff segelte, aber schließlich waren nur noch das Rauschen des Ozeane und das Pfeifen des Windes um ihn herum. Niemand antwortete ihm. Er war wieder allein. Da schlug Edro die Augen auf. Er war schweißgebadet, obwohl es durchaus nicht warm war. Es war schon heller Tag und Mergun hatte bereits den Großteil ihrer Sachen zusammengepackt. Benommen stand er auf, nahm einige Bissen zu sich und blickte düster auf die Asche des in der Nacht abgebrannten Feuers. Edro wusste selbst nicht so recht, warum ihn dieser Traum so sehr mitgenommen hatte. Er wusste doch schließlich nun, dass alles nur ein Traum gewesen war. Als Kiria ihn ansah, zuckte er etwas zusammen. Eine unbewusste Angst stieg in ihm auf. Die Stimme... Aber die Erinnerung an den Traum verblasste rasch wieder zu einem äußerst unscharfen Bild, auf dem nur noch die gröbsten Einzelheiten zu erkennen waren. Dann ging er zum Flussufer, wo er Mergun und Lakyr dabei half, das Boot zu Wasser zu lassen. Wenig später schon ruderte die kleine Gruppe ihr Gefährt weiter Flussaufwärts. Ihre Reise ging relativ schnell voran - aber das würde sich bald ändern, wenn sie die großen Wälder von Yumara erreichten. Edro redete an diesem Tag nicht viel. Er saß stumm im Heck des Bootes und stieß das kleine Boot mit seinem Paddel vorwärts. Aber seine Gedanken waren ganz woanders, das sah man sehr gut. Er beobachtete, wie sich die Gräser unter dem Wind bogen und Äste und Blätter mit der Strömung des Flusses fortgerissen wurden. Aber sie fuhren gegen den Strom. Alle paar Stunden legten sie an Land an und machten eine kurze Rast. Am Nachmittag schließlich erreichten sie den großen Wald. Uralte, knorrige Bäume beugten sich über den Fluss und blickten drohend auf das kleine Boot herab. Der Wechsel vom hügeligen Auenland zum Waldland war fast übergangslos vor sich gegangen. Plötzlich war er da gewesen: der düstere, von gefährlichen Ghorraparen-Stämmen bewohnte Wald.
"Jetzt heißt es doppelt wachsam sein", hatte Mergun gesagt. "Hinter jedem Baum mag ein heimtückischer Bogenschütze lauern." Geisterhaft erscholl der Schrei eines buntgefiederten Vogels, den irgendetwas aufgescheucht hatte und irgendwo war der dämonenhafte Schlag schwarzer Schwingen zu hören.
"Dieser Wald hat mit dem der Wolfsinsel nichts gemein", meinte Mergun und Lakyr nickte düster.
"Er ist seltsam, aber ich glaube nicht, dass er besondere Gefahren birgt." Zunächst hatte jeder Schrei, jedes Geflatter die Mitglieder der Gruppe zusammenzucken lassen, aber mit der Zeit gewöhnten sie sich an die Musik des Urwaldes. Einmal wollte Mergun am Ufer ein Paar Augen gesehen haben und auch Lakyrs Katze hatte laut gefaucht. Aber die anderen konnten nichts entdecken. Man kam schließlich zu dem Schluss, dass Mergun sich getäuscht haben musste. Aber der Nordländer wollte das nicht so einfach akzeptieren. Noch intensiver als zuvor beobachtete er die Flussufer. Aber selbst die scharfen Augen des Nordländers konnten nichts entdecken. Langsam aber sicher begann es zu dämmern, und man musste sich nun entscheiden, wo man übernachten wollte.
"Ich halte es für zu gefährlich, an Land zu gehen", sagte Kiria im Brustton der Überzeugung. Sie lauschte einige Augenblicke den Stimmen des Waldes. Sie waren weder böse noch liebevoll. Sie waren nur so unwahrscheinlich fremd.
"Es ist gefährlich, da habt Ihr recht. Vor allen Dingen deshalb, weil wir über die Gefahren dieses Waldlandes so gut wie gar nichts wissen. Aber bleibt uns denn eine andere Wahl?" Das war Lakyr. Edro blickte zu einem der Baumriesen empor.
"Vielleicht können wir in den Baumkronen übernachten", meinte er.
"Eine gute Idee. Da kommt so schnell kein wildes Tier hin", meinte auch Lakyr. Sie landeten also und zogen das Boot ans Ufer. Ganz in der Nähe wuchs ein uralter, knorriger Baum, wo sie relativ gut übernachten konnten. Edro hatte Angst vor dem Einschlafen. Er fürchtete, sein Traum könne zurückkehren. Doch schließlich übermannte ihn die Müdigkeit. Der Tag war anstrengend gewesen und verlangte von seinem Körper den nötigen Schlaf. Wider Erwarten ließen ihn die Träume jedoch diese Nacht in Ruhe.
*
Noch vor Sonnenaufgang ging es dann weiter. Der Wald schien friedlich zu sein. Nirgends lauerte Gefahr. Es schien Edro so, als würde der Pflanzenwuchs immer üppiger, je
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