Elben Drachen Schatten
wie das Wellenchaos vor ihm, wirkte für einen Traum zu real. Edro spürte das. Und plötzlich wurde es ihm bewusst, dass er träumte. Aber nein! Er fühlte sein wehendes Gewand. Er tastete nach dem Griff seines Schwertes und zog es. Seine Klinge war kalt - wie immer. Hastig steckte er die Waffe dann zurück und lief an dem endlos scheinenden Strand entlang. Er rannte. Und plötzlich wusste er, dass alles, was um ihn herum passierte real war, dass es wirklich passierte. Es war kein Traum, dessen war er sich jetzt völlig sicher. Er hatte sich ins Ohr gezwackt, aber er war nicht aufgewacht. Erschrecken bemächtigte sich seiner. Wie sollte er an jenen seltsamen Ort gelangt sein? War er in eine andere Welt gelangt? Vielleicht durch irgendeine Art von Magie? Möglich war alles - und nichts. Nein, dies war seine Welt. Er kannte jedes Gras, das hier wuchs und jede Vogelart die hier kreischte. Und doch... Irgendetwas war geschehen, etwas, dass er sich zur Zeit noch nicht erklären konnte. Wo waren Kiria und die anderen?
"Kiria!", rief er, aber es kam natürlich keine Antwort. Irgendetwas trieb ihn vorwärts. Er lief. Er lief wie nur ein Verrückter laufen konnte. Immer schneller jagte er seine Beine vorwärts - und er wusste selbst nicht recht, wohin er eigentlich rennen wollte, was sein Ziel war. Wahrscheinlich hatte er gar kein Ziel. Wie automatisch setzte er ein Bein vor das andere, rannte, lief, hetzte. Der Strand hatte kein Ende und nirgends war in der Landschaft eine Abwechslung zu sein. Es war ihm so, als würde er rennen und trotzdem immer an ein und demselben Ort bleiben. Es war schrecklich. Und dann stolperte er. Seine Hände berührten den nassen Sand. Mühsam richtete Edro sich dann wieder auf. Er blickte aufs Meer hinaus. Etwas Rotes war am Horizont aufgetaucht. Der Dakorier strengte seine Augen so gut es ging an, aber er vermochte trotz allem nicht zu erkennen, was dort am Horizont auftauchte. Seine Linke legte sich um den Schwertgriff, während er sich mit der Rechten den Sand aus den Augen rieb. Dieses seltsame, rote Etwas kam immer näher und schließlich vermochte Edro zu erkennen, was es war. Es war ein Schiff. Ein rotes Schiff. Es sah äußerst merkwürdig aus, denn nirgends konnte Edro eine Besatzung erkennen. Auch kannte er kein Volk, das seine Schiffe rot anstrich. Trotz des Windes hingen die Segel schlaff von den Masten. Wie ein riesiger Fisch durchpflügte es die See - aber offenbar ohne die Kraft seiner Segel. Edro schüttelte den Kopf. Nein, ein so seltsames Schiff hatte er noch nicht gesehen. Dann verschwand es langsam wieder in der Ferne. Trotz seiner offensichtlichen Fremdartigkeit war Edro das Schiff irgendwie vertraut vorgekommen. Wohin mochte dieses Schiff fahren? Nach Elfénia?
"Was starrst du so auf das Meer hinaus, Edro?", fragte eine seltsam vertraute und doch zugleich fremde Stimme. Langsam wandte sich Edro um, aber da war niemand.
"Wo bist du?", rief er.
"Ich bin hier", erwiderte die Stimme. Edro fragte sich, an wen ihn diese Stimme erinnerte. Er war sich vollkommen sicher, sie bereits vernommen zu haben.
"Ich sehe dich nicht!"
"Das macht nichts!" Edros Hand war am Schwertknauf, aber irgendwie spürte er, dass diese Stimme ihm nicht böse gesonnen war.
"Warum schautest du auf das Meer hinaus, Edro?", wiederholte die Stimme jetzt ihre Frage. Edro schwieg zunächst. Er war ratlos. Und wieder fragte er sich, ob dies nun die Realität oder ein böser Traum war. Vielleicht war es beides?
"Was suchten deine Augen am Horizont?"
"Ein Schiff."
"Ein rotes Schiff? War es rot?" Ein seltsamer Unterton schwang in diesen Worten der Stimme mit. War es Spott? Oder Furcht? Oder etwas anderes? Einen Augenblick zögerte Edro deshalb mit seiner Antwort.
"Ja, es war ein rotes Schiff."
"Hast du es gesehen, Edro?"
"Ja." Edro glaubte jetzt, ein leises, unterdrücktes Stöhnen zu hören.
"Weißt du etwas über dieses Schiff?", fragte der Dakorier dann.
"Auf ihm reisen die Verrückten und Wahnsinnigen. Es ist ein schreckliches Schiff. Magie steckt in ihm. Sahst du die Segel? Sie hingen schlaff von den Masten, obwohl der Wind blies und das Schiff fuhr. Eine magische Kraft treibt es vorwärts immer weiter seinem dämonischen Ziel entgegen."
"Wohin segelt das rote Schiff?", fragte Edro jetzt die Stimme.
"Wohin es segelt, willst du wissen, Edro? Sein Ziel ist ein Land, das es gar nicht gibt."
"Wie ist sein Name?"
"Dieses Land besitzt tausend Namen - und einer ist schrecklicher als der andere."
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