Elben Drachen Schatten
weißen Schein ließ Sandrilas den fassungslosen Blick über die abgenagten Knochen, Gerätschaften und Kleidungsstücke schweifen, die am Lagerplatz verstreut lagen.
Lirandil gesellte sich zu ihm. Er, der erfahrene Fährten- und Spurensucher, erkannte auf den ersten Blick, was an diesem Ort geschehen war: Die Nachtkreaturen hatten die Leichen jener Elben, die während des Kampfes auf dem Felsplateau ihr Leben verloren, hergebracht und sie dann … gefressen!
Und nicht nur die.
»Nicht einmal vor den eigenen Toten hatten sie Respekt«, murmelte Lirandil mit belegter Stimme.
Siranodir stieß einen Schrei aus, in dem sich sein ganzes Entsetzen manifestierte.
Lirandil blickte auf. In seinem ganzen langen Leben hatte er noch keinen Elben derart schreien hören.
5. Kapitel:
Branagorn
Kampfeslärm.
Schreie.
Schabende Geräusche, die an das dunkle Getier aus feuchten, uralten Grüften gemahnten …
Das alles hatte der junge Elbenkrieger Branagorn für eine unerträglich lange Zeitspanne mit anhören müssen. Und das in einer Intensität, die für die zarten Sinne eines Elben die reinste Folter darstellten.
Nur der Gesichtssinn schien Branagorn zum Narren zu halten.
König Keandir war von einem Augenblick zum anderen verschwunden, bevor sein junger Begleiter Ohrenzeuge eines unsichtbaren Kampfes geworden war. Mit dem Schwert in der Hand stand er da – vor sich den vollkommen ruhig daliegenden unterirdischen See, der vom Augenlosen Seher als Schicksalssee bezeichnet worden war.
Branagorn hatte das Gefühl, dass ganz in seiner Nähe, aber unsichtbar vor ihm verborgen etwa Schreckliches geschah, während er zur Teilnahmslosigkeit verdammt war, unfähig einzugreifen.
»Jetzt sagt mir endlich, wo sich mein Herr und König befindet!«, wandte sich Branagorn wütend und nicht zum ersten Mal an den Augenlosen Seher, der sich ein Stück abseits hielt und spöttisch den zahnlosen Mund verzog. Die Sorge Branagorns schien ihn auf eine gehässige Weise zu amüsieren.
»Da ist so viel naive Anteilnahme in Euren Worten! Noch scheint Ihr so sehr mit der Welt verbunden, dass Ihr nicht in der Lage seid, die komfortable Position des distanzierten Betrachters einzunehmen. Das ist wirklich köstlich. Ich habe so etwas sehr lange nicht mehr erlebt, mindestens ein Äon lang nicht mehr …« Die Stimme des Sehers bekam einen beinahe melancholischen Klang, verlor dabei aber nicht die Nuance von beißendem Zynismus, die seine Worte zu scharfen Messerschnitten für Branagorns Seele machten.
Branagorn richtete die Spitze seines Elbenschwerts auf den Seher. Lichtfang hieß dieses Schwert, denn wenn Sonnenstrahlen auf das glatte Metall trafen, schien es zu leuchten, als wäre die Klinge selbst von Licht erfüllt.
Doch schon beim Kampf gegen die Affenartigen auf dem Felsplateau hatte es diese Eigenheit nicht gezeigt; der dichte Nebel hatte dies verhinderte, indem er dafür gesorgt hatte, dass das Sonnenlicht nur gedämpft und abgeschwächt auf das nach uralter Elbentradition verarbeitete Metall traf. Und in das unterirdische Gewölbe, in das es Branagorn zusammen mit seinem König verschlagen hatte, drang ohnehin kein Sonnenstrahl. Das magische Licht von Fackeln, die nicht wirklich brannten und auch keine Wärme abstrahlten, und die geheimnisvoll leuchtenden Steine waren offenbar nicht dazu geeignet, diese wundersame Eigenschaft Lichtfangs zu wecken. Diese Lichtquellen, davon war Branagorn überzeugt, waren aus dunkler Magie geboren, und diese dunkle Magie wollte sich nicht mit der hellen weißmagischen Kraft seiner Waffe vereinigen. Nur schwarzer Zauber schien an diesem ungastlichen Ort ihre Wirksamkeit entfalten zu können, das war Branagorn ziemlich schnell klar geworden. Umso erstaunter und geradezu entsetzt war er darüber gewesen, dass sich sein König auf den Augenlosen eingelassen hatte. Und dies nur für das vage Versprechen, irgendetwas über das zukünftige Schicksal der Elben und seiner Selbst zu erfahren.
»Was willst du tun?«, höhnte der Augenlose, als ihm Branagorn die Schwertklinge an die Kehle setzte. Der Seher ließ es zunächst widerstandslos geschehen, doch die sechsfingerigen Hände waren so fest um die beiden verzauberten Wanderstäbe gekrallt, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Brauchst du wirklich noch einmal einen Beweis meiner Macht? Muss ich einem Narren wie dir tatsächlich erst ernsthaften Schaden zufügen, ehe du einsiehst, dass du mit deinem lächerlichen Schwert hier nichts erreichen
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