Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
alleine zu lassen. Es reicht, wenn Svenya und ich sterben.« Er legte einen Pfeil auf die Sehne seines Hornbogens.
»Wieso erschießt Ihr nicht Laurin mit dem Pfeil?«, fragte Wargo gereizt.
»Du weißt, dass er schneller ist, und ich habe nur einen Schuss, ehe sie über mich herfallen«, antwortete Hagen nüchtern. »Also, bitte geht!«
»Ich lasse dich nicht allein«, stellte Yrr klar.
»Es gibt hier nichts, was du noch tun könntest«, erwiderte Hagen.
»Doch«, sagte sie. »Ich kann verhindern, mit der Trauer über euren Verlust ewig weiterleben zu müssen und mein Leben in dem Bewusstsein geben, dass diese Nacht für immer in die Geschichte eingehen wird.« Sie schloss die Faust um den Griff ihres Schwertes, während Laurin im Zentrum der Ruine wieder die Stimme erhob.
»So sehr wir die Schatten lieben«, rief Laurin seinem Publikum zu, »waren wir doch viel zu lange gezwungen, in ihnen zu leben.«
Ein Sturm der Zustimmung schwoll an. Er beruhigte ihn, indem er die Hände ausbreitete.
»Doch wir haben ausgeharrt. Zweitausend Jahre lang. Und in diesen zweitausend Jahren niemals auch nur eine Minute lang die Hoffnung aufgegeben, dass der Moment irgendwann kommen wird – der Moment, in dem wir dieser erbärmlichen Existenz und unseren Unterdrückern den Rücken kehren können, um all die wiederzusehen, die wir hinter uns lassen mussten, und in Schwarzalfheim endlich, endlich, endlich die Früchte unseres so lange zurückliegenden Sieges zu genießen.«
Wieder gab er dem Jubel für einige Momente Raum, ehe er fortfuhr.
»Dort wird von uns abfallen, was uns mutlos machte und zu Schatten unserer früheren Größe. Und dennoch wird es nur ein kurzer Aufenthalt sein. Denn wir werden, sobald wir wieder erstarkt sind, hierher zurückkehren – diesmal mit Macht und mit unserer Armee im Rücken …, um Alberich und die Seinen ein für alle Mal in die Knie zu zwingen und Midgard zu unserer Kolonie zu machen. Erst dann ist unsere Mission wirklich erfüllt, und ihr alle, die ihr so lange mit mir hier ausgeharrt habt, werdet in die Reihen der Edelsten unseres Volkes aufsteigen.«
Den Beifall, der jetzt erscholl, unterbrach Laurin nicht. Er sonnte sich darin und wartete geduldig, bis er von selbst abebbte.
»Sie hier«, er deutete auf Svenya, »ist unser Schlüssel zu alldem. In nur wenigen Minuten, wenn der Morgenstern über den Horizont klettert, wird sie uns das Tor öffnen. Das Tor nach Hause!!!«
Gerade wollte der Jubel erneut anheben, da wurde er auch schon gestoppt – von Svenyas Stimme, die eine raue, ja fast animalische Note angenommen hatte.
»Nichts davon wird geschehen«, rief sie. »Glaubt ihm kein Wort.«
Laurin drehte sich zu ihr um und schaute sie fragend und wütend zugleich an.
»Und wie, Hüterin, sag es mir, willst du das in deinem Zustand verhindern?«, fragte er höhnisch.
»Ganz einfach«, sagte Svenya. Nachdem sie aufgehört hatte, auf Rettung aus Elbenthal zu hoffen, hatte sie eine Entscheidung gefällt.
»Was hat sie vor?«, fragte Wargo die anderen drei in ihrem Versteck im dichten Nadelgestrüpp der Fichten.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Hagen und ließ den Bogen, mit dem er bereits auf Svenyas Herz gezielt hatte, um einige Zentimeter sinken. »Nicht die geringste.«
Auch Raik zuckte mit den Schultern, und Yrr schüttelte rätselnd den Kopf.
»Bist du vertraut mit der Tatsache, dass ein Fluch auf mir liegt?«, fragte Svenya Laurin.
Die Wut und das Fragezeichen verschwanden aus seinem Blick, und er begann wieder zu lächeln.
»Der Fluch der Frage«, sagte er. »Damit bin ich nicht nur bestens vertraut, er ist obendrein eng verbunden mit dem Grund, warum du heute Nacht hier bist.«
Das irritierte Svenya, doch sie durfte sich jetzt nicht von ihrem Vorhaben ablenken lassen. »Dann kennst du die Frage.«
Laurin trat an sie heran. »Meine Liebe, ich kenne sogar die Antwort.«
Das hätte ihr beinahe die Sprache verschlagen, aber Svenya riss sich zusammen. »Die Antwort interessiert mich überhaupt nicht«, log sie. »Es geht nur um die Frage. Wenn ich sie jetzt stelle, werde ich zu einer Sterblichen … zu einer Menschenfrau. Richtig?«
»Korrekt.«
»Und ich nehme an, dass ich dir als solche nicht mehr von Nutzen bin für dein Ritual, nicht wahr?«
Das Lächeln entglitt Laurin. »Das kannst du nicht tun.«
»Nichts leichter als das.«
Der Schwarze Prinz machte einen Schritt zurück. »Du würdest tatsächlich deine Unsterblichkeit und deine Macht opfern, nur um
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