Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
uns lieb und teuer ist?«
Hagen seufzte. »Das ist doch genau das Problem: Wir müssen Opfer bringen, um nicht alles zu verlieren.«
»Sieh nur, wohin uns das gebracht hat. Wir haben doch bereits alles verloren. Wir vegetieren seit Jahrhunderten abgeschnitten von der Sonne in einer Höhle vor uns hin und müssen uns sogar vor denen verstecken, die wir beschützen, weil sie uns sonst aus Angst und Gier heraus so lange jagen würden, bis sie auch den Letzten von uns vernichtet haben.«
»Das ist der Preis, den wir für das Überleben beider Völker zahlen müssen.«
»Der Preis ist zu hoch«, gab Yrr zurück. »Viel zu hoch! Ich bin nicht länger bereit, ihn zu zahlen oder Svenya bezahlen zu lassen.«
»Ich befehle dir umzukehren, Tochter!«
»Nein.«
»Hast du nicht gehört?«, fragte Hagen ungläubig. »Das war ein Befehl.«
»Und ich widersetze mich ihm«, stellte sie klar. »Was willst du jetzt tun? Mich bestrafen, wenn du von deinem Himmelfahrtskommando zurückkehrst? Ach, halt, warte, das geht ja gar nicht, weil du dann schon tot bist. Oder willst du mich vielleicht auch töten, so wie du Svenya töten willst?«
»Yrr. Bitte! Mach es doch nicht noch schwerer.«
»Weil du es mir ja auch sooo leicht machst! Du kannst vieles von mir erwarten, aber ganz bestimmt nicht, dass ich tatenlos dabei zusehe, dass mein eigener Vater, der Mann, den ich mehr liebe als alles andere auf der Welt, sich selbst opfert und dabei ausgerechnet die Frau tötet, die mit dem eigenen Leben zu beschützen ich geschworen habe.«
60
Laurin hielt seine gespreizten Hände über die fünf magischen Gegenstände auf dem Altar und begann einen Singsang in einer Sprache, die Svenya auf seltsame Weise vertraut vorkam und die ein wenig klang wie Elbisch. Dennoch verstand sie nicht ein einziges Wort. Aber seine Stimme berührte sie tief in ihrem Innern – ganz gegen ihren Willen. Es war mehr als nur der Ton dieser tiefen, sonoren Stimme und auch mehr als der archaisch raue Klang der sich reimenden Verse. Es war, als ob die Melodie sie von Kopf bis Fuß durchdrang und sie mit einer merkwürdig wilden Kraft erfüllte. Svenya fühlte, wie ihre Reißzähne zu wachsen begannen – und auch ihre Muskeln … und sie verspürte den Drang zu knurren und zu fauchen. Als würde etwas Altes, Unbändiges von innen heraus von ihr Besitz ergreifen. Laurin beobachtete sie und lächelte triumphierend, als er sah, welchen Effekt seine Beschwörung auf sie hatte.
Der Dolch, das Band aus Haar, die mit Blut gefüllte Phiole, der Knochenring und das vertrocknete Herz begannen zu glühen und hoben sich schwebend von der Oberfläche des Altars ab. Währenddessen tauchten immer mehr Dunkelelben und Mannwölfe, aber auch ganz andere, furchterregende Kreaturen hinter der attraktiven Brünetten auf, deren Blicke immer argwöhnischer wurden. Die Blicke Gerulfs aber, dessen abgetrennter Unterarm bereits fast vollständig wieder nachgewachsen war und der nicht weit von Svenya am Boden kniete, waren noch sehr viel intensiver. Er war voller Hass … und Rachsucht.
»Meine Brüder und Schwestern!«, rief Laurin und drehte sich zu den Neuangekommenen herum. »Die Zeit ist gekommen! Unser Warten hat ein Ende. Endlich. Heute Nacht werden wir zurückkehren. Zurück in unsere Heimat!«
Die kleine Menge brüllte ihre Begeisterung hinaus in die Stille des sie umgebenden Waldes …
… wo Hagen, Yrr, Raik und Wargo, hinter einer dichten Reihe von Fichten kauernd, Stellung bezogen hatten.
»Du siehst, es sind einfach zu viele«, flüsterte Hagen seiner Tochter zu.
Yrr antwortete nicht, doch die Härte in ihrem Gesicht verriet, dass sie einsah, dass er recht hatte.
»Das spielt keine Rolle«, knurrte Wargo. »Wenn Svenya wirklich sterben muss, wird sie es nicht alleine.«
Er begann sich zu verwandeln und wollte schon aufspringen, als Raik ihn bei den Schultern packte. »Können wir das bitte erst einmal zu Ende denken?«
»Dafür ist keine Zeit mehr«, fauchte Wargo mit aggressiv gebleckten Zähnen.
»Doch«, widersprach Raik. »Dafür ist Zeit. Wie ich Laurin kenne, ist das erst der Anfang seiner Ansprache.«
»Also gut«, lenkte Wargo ein. »Aber sobald er das Ritual fortsetzt, hält mich nichts mehr, und ich reiße ihm sein verfluchtes Herz heraus.«
»Du wärst tot, ehe du auch nur zwanzig Meter an ihn herankämst«, sagte Yrr.
»Sie hat recht«, bestätigte Hagen. »Deshalb, wenn ich es euch schon nicht befehlen kann, bitte ich euch inständig, mich jetzt
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