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Elbenzorn

Elbenzorn

Titel: Elbenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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auf dem Boden lag wie ein großer goldener Schmetterling. Sie schob ihren Fuß vor, bis ihre Zehen in das Licht eintauchten, und bewunderte das Spiel der Stäubchen, die darin tanzten.
    »Ich hatte erwartet, dass ihr zumindest besser auf sie achtet«, sagte die vertraute Stimme.
    »Das taten wir«, erwiderte eine andere, deren Klang sie frösteln machte.
    »dastatnwir«, wiederholte sie abwehrend, und dann »irgutaufsiachtt«. Es klang seltsam, und sie lachte.
    »Hat sie etwas gesagt?«, fragte die erste Stimme.
    »Sie plappert manchmal vor sich hin«, erwiderte die zweite, die kalte.
    »Vors’chhinnnnn«, murmelte sie und lauschte andächtig dem Summen ihrer eigenen Stimme.
    »Sie hatte einen Anfall. Ich konnte nicht erkennen, was ihn ausgelöst hat. Wir versorgen sie gut, vielleicht erholt sie sich wieder.«
    »Das reicht mir nicht«, gab der erste Sprecher scharf zurück. Seine Stimme klang angespannt und böse. »Ihr habt sie gegen meinen Willen entführt. Ich bestehe darauf, dass ihr sie in meine Obhut gebt.«
    Der zweite lachte. »Und ich halte es für besser, wenn sie bei uns bleibt«, erwiderte er. »Unsere Zusammenarbeit war nicht befriedigend. Nun hast du einen guten Grund, dich im Sinne unserer gemeinsamen Sache ein wenig mehr anzustrengen.«
    Sie wollte die Stimmen nicht mehr hören und steckte die Finger in die Ohren. Es reichte nicht, um die Stimmen auszusperren, also nahm sie die Decke, die neben ihr lag, und wickelte sie um ihren Kopf. Das war gut. Es war dunkel und ruhig, und wenn es dunkel und ruhig war, konnte sie den anderen Stimmen lauschen, die zu ihr sprachen. Sie erzählten ihr Geschichten, die sie zum Weinen brachten und die sie staunen ließen. Große Geschichten, Geschichten von Blut und Trauer, aber auch von Liebe und Freundschaft. Sie sah Gesichter, die ihr fremd und gleichzeitig altbekannt waren, sie wusste, was die Akteure dieser großen Geschichten bewegte, sie wusste, dass unzählige von ihnen im Verlaufe der Handlung sterben und viele sich, an Leib und Seele verwundet, zurückziehen würden. Sie waren ihre Kinder und ihre Ahnen, sie war ihr Kind und ihre Ahnin – es war gut, bei ihnen zu sein. Sie waren ihr Volk.
    Irgendwann schlief sie. Wenn sie schlief, hörte sie nur die anderen Stimmen. Unablässig sprachen sie zu ihr, ein endloser Fluss von Bildern, Worten, Gedanken, der sie mit sich nahm auf eine Reise, die niemals endete. Sie ließ sich mit den Stimmen treiben, denn sie flößten ihr keine Furcht ein. Manchmal weinte sie, aber sie fühlte keinen Schmerz. Das Weinen war wie Regen im Frühling, bald vorüber und vergessen.
    Rutaaura erwachte davon, dass sie niesen musste. Ein Strohhalm aus ihrem Lager hatte sich durch die Decken gebohrt und kitzelte sie an der Nase. Sie setzte sich auf und betrachtete ihre Umgebung, die nicht anders aussah als in der Nacht zuvor. Falls es nicht noch immer Nacht war. Sie dachte beunruhigt darüber nach. Sie wusste nicht, ob inzwischen ein neuer Tag angebrochen war. Sie hatte geschlafen, sie war erwacht, sie war einigermaßen ausgeruht – aber ihr fehlte jeder Hinweis auf das, was draußen vor sich ging.
    Sie stand auf und zog sich an. Während sie ihre Stiefel schnürte, fiel ihr Blick auf das Tablett mit den Essensresten – oder besser gesagt, auf das Tablett, auf dem sich Essensreste hätten befinden müssen. Stattdessen sah sie einen Krug mit Wasser, Brot und Käse, Obst, Nüsse, ein Stück Früchtekuchen – alles frisch und unberührt. Sie drehte sich um und suchte nach der Waschschüssel, die sie am Vortag ausgeleert hatte. Auch sie war frisch gefüllt worden.
    Mit einem Fluch fuhr sie herum und stürzte hinaus vor ihre Höhle. Still und dunkel lag der Gang vor ihr. Sie blickte sich hastig um, aber keiner ihrer Sinne verriet ihr die Anwesenheit eines anderen Lebewesens. Sie rief: »Hallo!«, doch nichts außer dem Echo ihrer eigenen Stimme antwortete.
    Rutaaura ging zurück in die kleine Höhle und starrte auf die Zeugnisse fremder Anwesenheit. Dann hockte sie sich, vom Knurren ihres Magens besiegt, auf die Kante des Felssimses, nahm das Tablett auf die Knie und biss in das verlockend duftende Brot.
    Sie wartete. Sie wurde wieder müde und rollte sich auf ihrem Lager zusammen. Wenn sie schlief, kam jemand herein und brachte ihr etwas zu essen.
    Rutaaura versuchte, wach zu bleiben, um diesen Jemand zu erwischen und ihn zu fragen, warum man sie hier gefangen hielt. Denn gefangen war sie in diesem Loch, so sicher wie hinter einer

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