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Elbenzorn

Elbenzorn

Titel: Elbenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Rutaaura trat zwischen ihnen hindurch und sah sich misstrauisch um. Die Höhle war winzig, wie ein kleines, aus dem Felsen gehauenes Nest. Auf einem kniehohen Sims war auf einer dicken Schicht von Ästen aus weichen Decken ein ordentliches Lager gerichtet, und daneben stand ein zugedecktes Tablett, unter dem Rutaaura ihr Nachtmahl vermutete. Eine Schüssel mit Wasser und ein paar Tücher warteten am Fuß der Bettstelle. Kein heißes Bad, aber damit hatte sie ohnehin nicht mehr gerechnet.
    Sie wandte sich um, wollte ihre Begleiterinnen fragen, wie es nun weitergehen sollte – aber die beiden Frauen waren lautlos verschwunden. Sie war allein.
    Rutaaura setzte sich auf das sanft knisternde Lager, streckte die Beine von sich und ächzte leise. »Lluis, du hattest recht«, murmelte sie. »Was treibe ich hier bloß?«
    Sie rieb sich übers Gesicht. Wo er jetzt wohl gerade war? Noch bei Tamayout oder schon auf dem Rückweg in den Norden? Die Erinnerung an ihren Abschied versetzte ihr einen Stich. Er wäre ihr klaglos – beinahe klaglos – hierher und noch weiter gefolgt, aber sie hatte ihn davongejagt wie eine lästige Fliege.
    Sie gähnte, zu müde für ernsthafte Selbstvorwürfe, und zog sich aus. Es war erstaunlich warm in der kleinen Höhle, beinahe, als würde sie geheizt. Dankbar schlüpfte sie in ein langes Hemd, das zusammengefaltet für sie bereitlag. Das abgedeckte Tablett wartete mit einer kräftigen, wenn auch kalten Mahlzeit auf, die sie nicht ganz verzehrte. Sie zog die Decke über den Kopf, zum ersten Mal seit einigen Nächten nicht durchgefroren bis ins Mark, und schlief ein, kaum, dass sie die Augen zugemacht hatte.
    Sie schlief und träumte, dass sie durch das Labyrinth wanderte. Sie war allein, aber trotzdem hörte sie flüsternde Stimmen. Immer wenn sie sich umdrehte, um zu sehen, wer sie verfolgte, waren da nur die Umrisse der Felsen. Sie hörte das Echo ihrer eigenen Schritte, und wenn sie innehielt, klangen leise und raschelnd Schritte nach, die nicht von ihr stammen konnten. Aber sie sah niemanden, der ihr folgte. Sie ging weiter. Ihre Füße waren müde, aber sie war getrieben von dem Wunsch, das endlose Gewirr von Gängen und Höhlen hinter sich zu lassen und wieder Tageslicht zu sehen.
    Sie hatte keinen Blick für die Wunder, die sich ihren Augen darboten. Sie passierte tiefe Schluchten, wo Wasserfälle aus der Schwärze über ihr herabtosten und in der Dunkelheit verschwanden. Sie überquerte fragile Steinbrücken, während rechts und links von ihr der Abgrund nach ihr griff. Sie sah Höhlen, in denen seltsame Steingebilde aus den Wänden wuchsen, und andere, in denen der Schimmer ungeschliffener Kristalle ihre Augen narrte. Ein endloser Gang war rundum dicht mit blauem Moos bewachsen, sie trat über sein weiches Polster, das unter ihren Füßen bebte wie ein lebendes Wesen und leise wogend zurückwich, wenn sie den Wänden die Hand näherte.
    Aber an all dem ging sie achtlos vorüber, nichts anderes im Sinn, als es hinter sich zu lassen und das Licht der Sonne wiederzusehen.
    Und immer waren Schritte hinter ihr und leise Stimmen, die Worte flüsterten, die sie nicht verstand.
    »Sssss«, flüsterte es. »Tttt«, gab eine andere Stimme zurück. »Chhhhh«, hauchte eine dritte. »Mmmmm«, stöhnte die erste – oder wiederum eine neue? »Aaaaah«, seufzte ein Chor von Stimmen, und »Ooooh« und »Huuuu« antworteten andere.
    »Ruuuu«, murmelte ein tiefer Ton. »Taaaa«, erwiderte es leise. »Tochhhhhh«, jammerte ein Windhauch. »Tochhhhhh«.
    Mit diesem Seufzer im Ohr erwachte sie ruckartig. Jemand hatte an ihrem Lager gestanden und auf sie herabgesehen. Sie sprang auf, benommen vom Schlaf, und ging zum Eingang ihrer Höhle. »Tochter«, murmelte sie, nach den letzten Fetzen ihrer Träume haschend. Niemand war dort. Es war dunkel, still und kalt.
    Mit einem Schaudern zog sie sich in das warme Innere ihrer Schlafhöhle zurück und wickelte sich wieder in ihre Decken. Der Schlummer kam wider Erwarten sanft, und diesmal schlief sie traumlos.

28
    S ie hörte, dass jemand sprach. Die Worte ergaben keinen Sinn, aber der Tonfall, der Klang der Stimme waren ihr vertraut. Sie lauschte, ohne sich allerdings dabei anzustrengen.
    Es war ihr nicht wichtig, die Worte zu verstehen. Sie wusste, dass sie eingesperrt war, doch es beunruhigte sie nicht. Sie erinnerte sich nicht daran, wie sie hierhergekommen war, aber auch das störte sie nicht. In sich versunken betrachtete sie den Sonnenfleck, der vor ihr

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