Elbenzorn
Hände auf die Ohren. »Sie haben aufgehört«, fuhr sie fort. »Es ist so still. Sie haben mich allein gelassen, was soll ich jetzt tun? Ich weiß nicht, wo ich bin.«
»Wie kannst du überhaupt etwas sehen, wenn du dir eine Decke um den Kopf wickelst?«, fragte Rutaaura.
Die Gestalt tastete nach ihr und schrie leise auf, als sie Rutaauras Arm berührte. »Du bist wirklich«, sagte sie. »Wie bist du hereingekommen? Sie lassen niemanden herein.« Sie zog die Decke von den Augen und blickte in Rutaauras Richtung. »Es ist so dunkel«, klagte sie. »Ich kann dich nicht sehen.«
Rutaaura hob die Hand und entzündete einen gelblichen Elbenfunken. Die andere blinzelte geblendet und befreite ihren Kopf aus dem Tuch. Zerzaustes rotgoldenes Haar leuchtete im Lichtschein.
»Iviidis?«, Rutaaura kam auf die Knie und umfasste die Schultern der anderen. »Ivii, wie kommst du hierher?«
Die Elbin blinzelte erneut. »Wie … Wie nennst du mich?«
»Iviidis«, wiederholte Rutaaura ungeduldig. »Schwester, wie kommst du hierher?«
Iviidis legte den Kopf zur Seite und dachte nach. »Iviidis«, sagte sie langsam, ließ den Namen auf der Zunge zergehen. »Iviidis. Es klingt vertraut.« Sie runzelte die Stirn und sah Rutaaura an. »Du bist eine Bewahrerin«, sagte sie. »Ich kenne dich …« Sie hob die Hand, als Rutaaura etwas sagen wollte. »Du bist Mondauge.«
Rutaaura schüttelte sie sanft. »Ich bin Rutaaura, deine Schwester. Du bist die Bewahrerin, mein Herz, nicht ich.«
Iviidis lachte, ein fröhliches, glucksendes Gelächter. »Aber wie kann ich eine Bewahrerin sein – ich?« Sie hielt Rutaaura ihre helle Hand hin, als wollte sie damit etwas beweisen.
»Ivii«, sagte Rutaaura eindringlich. »Meine Schwester – wie bist du hierhergekommen? Ich suche seit Tagen und Tagen nach dem Weg hinaus!«
Iviidis schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich war … Ich war … dort.« Sie runzelte die Stirn. »Du behauptest, ich sei deine Schwester?«
Rutaaura nahm Iviidis’ Hand. »Woran erinnerst du dich?«, fragte sie.
Iviidis’ Augen glänzten. »An alles«, sagte sie inbrünstig. »An alles!«
Rutaaura lachte. »Nicht ganz«, sagte sie. »Du erinnerst dich nicht an mich, du weißt nicht, wie du hergekommen bist, du weißt ja nicht einmal, wer du selbst bist!«
Iviidis lachte mit ihr, aber dann wurde sie ernst. »Warte«, sagte sie. »Da ist so viel, es ist schwer, den Weg zu finden.« Sie kniff die Augen zusammen. »Du bist nicht Mondauge?«, fragte sie. Rutaaura verneinte. »Du sagst, ich bin Iviidis. Ich bin … Ich bin nicht …« Sie verstummte und schüttelte den Kopf. »Natürlich bin ich nicht Alvydas«, sagte sie ärgerlich. »Ich war auf dem Weg zu ihm, als …« Wieder das Kopfschütteln. »Es geht alles durcheinander«, beklagte sie sich. »Alles da drin geht durcheinander!« Sie schlug fest mit der flachen Hand gegen ihren Kopf. Als sie erneut ausholte, griff Rutaaura erschreckt nach ihr und hielt sie fest. Iviidis schloss die Augen und atmete hörbar aus.
Rutaaura betrachtete sie. Das ist nicht meine Schwester, dachte sie. Das kann nicht Iviidis sein. Es ist ein Trugbild. Eben habe ich noch Lluis’ Stimme gehört, und jetzt sehe ich meine Schwester. Ich werde noch verrückt hier drinnen.
Iviidis öffnete die Augen und blickte sie an. »Du bist nicht verrückt«, sagte sie. »Es ist seltsam, dass ich hier bin, aber vielleicht hat es etwas damit zu tun.« Sie hob die Hand und öffnete sie. Sie war leer, doch dann flimmerte die Luft über der Handfläche wie in großer Hitze, und ein dunkler Kristall erschien dort.
»Was ist das?«, fragte Rutaaura.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Iviidis grimmig. »Du musst Geduld mit mir haben, ich finde nicht auf Anhieb alles, was ich suche. Da ist so viel, dass ich das Gefühl habe, mein Kopf platzt.« Sie schloss die Hand um den Stein.
Rutaaura ließ sie los. »Du hast gesagt: ›Sie lassen niemanden herein.‹ Was meinst du damit?«
»Die, die mich gefangen halten«, antwortete Iviidis und riss gleich darauf die Augen auf. »Oh.«
»Oh«, echote Rutaaura. »Was ist los im Wandernden Hain? Wieso und von wem wirst du gefangen gehalten?« Und warum hat Trurre nicht auf dich aufgepasst, wie ich es ihm gesagt habe?, fügte sie in Gedanken hinzu.
Iviidis zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte sie resigniert. Ihre Hand wanderte zur Stirn. »Zu viel. Einfach zu viel.« Sie gähnte und zog die Decke wieder über ihren Kopf. »Müde«,
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