Elbenzorn
keine Zeit mehr für ein langsames Kennenlernen haben!«
»Halt«, sagte Rutaaura und stand auf. »Halt. Ich finde, ich darf eine Erklärung verlangen.«
Windgesang breitete die Hände aus und sah die andere Elbin beinah vorwurfsvoll an.
»Du kennst mich nicht«, sagte diese, »und ich bedauere das ebenso wie du. Ich bin Lootana. Du bist meine Tochter, Rutaaura Sternfängerin.«
Rutaaura sah sie stumm an. Die Elbin sah Iviidis zu ähnlich, als dass es Zufall sein konnte. Sie musste ihr glauben.
»Du bist also meine Mutter«, sagte sie schließlich. »Ich bin erstaunt, dich hier zu finden. Das ist nicht der Ort, an dem ich eine Goldene erwartet hätte.«
Lootana zuckte ein wenig zurück, als hätte Rutaaura sie beschimpft. Windgesang klopfte leicht mit dem Knöchel auf den Tisch. »Wir haben nun wirklich keine Zeit für Geplänkel«, sagte sie. »Kind, sei deiner Mutter nicht gram. Sie hatte keine andere Wahl, als das zu tun, was sie getan hat.«
Rutaaura zuckte mit den Achseln und wandte Lootana den Rücken zu. »Was soll jetzt geschehen?«, fragte sie betont sachlich. »Ich fürchte, dass sich Iviidis in ernster Gefahr befindet, und ich verstehe nicht, warum sie so schrecklich durcheinander war.«
Windgesang sah Lootana an. »Was meinst du?«
Die Elbin wandte sich an Rutaaura. »Woran genau erinnerst du dich? Was hat Iviidis dir erzählt?«
Rutaaura schloss die Augen und rief die Erinnerung in sich wach. Dann begann sie zögernd zu berichten, bis Lootana sie unterbrach: »Sie hat gesagt ›Ich bin nicht Alvydas‹?«
Rutaaura nickte. Lootana blickte Windgesang an, und ihre Miene war grimmig und besorgt zugleich. »Sie hat seine Erinnerungen. Und so, wie es aussieht, hatte sie keine Gelegenheit, sie zu archivieren.«
Windgesang legte eine Hand über die Augen. »Das ist eine viel zu große Bürde für eine von euch«, sagte sie. »Sie kann sie nicht lange tragen. Und sie wurde nicht einmal darauf vorbereitet, das Gefäß zu sein.«
»Was bedeutet das?«, fragte Rutaaura. Die beiden Frauen antworteten nicht.
Dann stand Lootana auf und sagte entschlossen: »Ich hole Mondauge. Sie ist die Letzte von euch, die die Erinnerungen der Ältesten getragen hat.«
Windgesang seufzte zustimmend. Dann stand sie auf und legte ihre Hände auf Rutaauras Schultern.
»Ich hätte mir gewünscht, dass wir mehr Zeit haben«, sagte sie. »Und noch mehr hätte ich dir gewünscht, dass du dich langsam an alles gewöhnen kannst. Aber ich weiß, dass solche Wünsche Federn im Sturm sind. Du wirst deinen Frieden finden, Sternfängerin. Du bist bei deinem Volk angekommen, und wir heißen dich mehr als willkommen, denn wir haben lange auf dich gewartet. Aber jetzt solltest du dich ausruhen. Geh und finde Sonnenlied, damit sie dir das Bad zeigt. Heute Abend werden wir uns weiter unterhalten.«
Rutaaura sah in die zwingenden Augen der Ältesten, und jeder Protest erstarb in ihr. Sie nickte gehorsam und folgte Lootana hinaus.
29
Z um ersten Mal nahm sie den Raum mit wachem Verstand wahr. Er war düster, die Holzbalken der Decke hingen niedrig über ihrem Kopf, und durch die vergitterte Fensteröffnung konnte sie nur einen winzigen Ausschnitt der Welt draußen erkennen – in der Hauptsache die Stämme großer Bäume.
Iviidis hockte auf ihrer Bettstelle, die Arme um ihre hochgezogenen Knie gelegt, und starrte auf die verschlossene Tür. Sie war den Raum nun mehrmals abgegangen, in der Hoffnung, eine Möglichkeit zur Flucht täte sich ihr auf, aber die Wände waren aus steinhartem Lehm, und die Eichenbohlen der Tür hingen in stabilen Angeln.
Iviidis dachte nach. Der Traum in der letzten Nacht hatte ihr geholfen, aus dem Irrgarten der fremden Erinnerungen herauszufinden. Sie wusste nicht, wie das geschehen konnte, aber sie war aufgewacht und wusste wieder, wer sie war. Wo sie sich befand, war zwar immer noch ungeklärt, aber daran konnte sie aus eigener Kraft nichts ändern.
Sie erinnerte sich an die Zeit der Verwirrung, und der Gedanke daran machte ihr Angst. Sie war nahe daran gewesen, den Verstand zu verlieren – oder sie hatte ihn schon verloren, und nur ein gütiges Schicksal hatte sie anscheinend davor bewahrt, endgültig dem Wahnsinn zu verfallen.
»Wieso Rutaaura?«, murmelte sie. Sie hatte von ihrer Schwester geträumt, und es war ein sehr realistischer Traum gewesen. Sie hatten nebeneinander in einem finsteren Gewölbe gehockt, Rutaaura trug fremdländisch anmutende Kleider und sah hager und erschöpft aus. Sie hatte
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