Elbenzorn
ihr die Hände um den Kopf gelegt, und Rutas Stimme war in ihrem Inneren gewesen und hatte sie geleitet, hinausgeführt aus der Verwirrung der fremden Erinnerungen.
Alvydas’ Erinnerungen. Iviidis schauderte und schloss die Augen. Sie waren noch da, alle, in ihrer unglaublichen Fülle. Kein Elb konnte so alt sein. Wenn sie begann, die Erinnerungen im Geiste abzuschreiten, konnte sie ihren Beginn irgendwo im fernen Nebel des Anfangs aller Dinge erahnen. Alvydas war dagewesen, als es noch keinen Wandernden Hain gegeben hatte, keine Könige, keine Goldenen … Da waren nur er und seine Schwestern und Brüder, die mit und in ihren Bäumen lebten. Die Welt war jung und wild, und die Bäume und die Elben lebten auf ihr, während die Berge sich formten.
Die Türriegel wurden zurückgeschoben. Iviidis zog die Decke über das Gesicht und wartete. Leichte Schritte kamen über den Lehmboden, und Iviidis hörte, wie sich jemand am Tisch zu schaffen machte. Dann fühlte sie, dass der Besucher vor ihr stand. Eine Hand legte sich um ihren Arm. »Essen«, sagte er. »Du musst etwas essen. Komm.« Er zog sie hoch, und sie ließ es geschehen. Sie ließ sich von ihm zum Tisch führen. Die Decke fiel von ihren Schultern, und sie machte keine Bewegung, sie aufzufangen. Der Mann, der hinter ihr stand, wartete. »Du hast keinen Hunger?«, fragte er nach einer Weile. Iviidis schüttelte den Kopf.
»Willst du hinaus? Ein bisschen frische Luft atmen?« Iviidis stockte der Atem. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben und sich nicht zu bewegen. Nach einer Weile senkte sie langsam den Kopf zu einem scheinbar gleichgültigen Nicken.
»Gut, dann komm«, sagte der Mann mit einem Hauch von Ungeduld in der Stimme.
Iviidis ging an seiner Hand aus dem Zimmer. Sie zwang sich, mit schleppenden Schritten zu gehen, als wäre sie zu müde, um die Füße zu heben.
Der nächste Raum war größer, mit einer Feuerstelle und wenigen Möbeln. Er sah nicht bewohnt aus, stellte sie fest, eher so, als würde jemand ihn nur zeitweise als Unterschlupf benutzen.
Die Tür ins Freie stand offen, und der Mann schob sie hindurch. Sie sah die dunkle Hand auf ihrem Arm und unterdrückte ein Schaudern.
Der Mann führte sie zu einem Holzstapel an der Hauswand.
»Setz dich«, sagte er. Iviidis gehorchte und fühlte die sonnenwarmen, ein wenig kratzigen Holzscheite unter sich. Es roch nach Harz. Sie ließ ihren Blick über ihren Bewacher wandern, so gleichgültig und leer, wie sie es nur hinbekam. Er war größer als sie und sehr schlank. Dunkel wie das alte Holz der Hüttenwand, vor der sie saß. Seine Haare waren hell wie Daunen und hingen lang über seine Schultern. Sie mied seine stechenden Augen und blickte an ihm vorbei. Bäume, alt und eng beieinander stehend. Dichtes Unterholz. Ein schmal ausgetretener Pfad lief auf die Tür des Hauses zu. Moos wuchs auf den Hüttenwänden und auf dem tiefgezogenen Dach.
Sie stand auf. Der Elb lehnte an der Hauswand und sah gelassen zu, wie sie einige Schritte nach rechts ging und um die Hausecke blickte. Auch hier standen die Bäume dicht an dicht, und Gestrüpp versperrte zusätzlich den Weg. Wahrscheinlich sah es rundum so aus. Das hier war wirklich ein verlassener Platz.
Sie wanderte weiter, bis sie das Haus einmal umrundet hatte. »Gut jetzt?«, fragte der Dunkle.
Sie schüttelte den Kopf. Er schüttelte den Kopf. »Du bist ganz schön lästig«, erklärte er. »Du hättest hören sollen, wie der Goldene sich aufgeregt hat wegen dir. Als wärst du ihm nicht völlig egal.« Er lachte.
Iviidis sah ihn ausdruckslos an. Rede nur weiter, dachte sie. Aber der Dunkle schwieg und starrte in die Luft. Anscheinend waren sie allein, sie hatte niemanden außer ihrem Bewacher entdecken können. Wenn es ihm langweilig wurde, neben ihr zu stehen, bot sich vielleicht eine Möglichkeit, sich davonzustehlen. Sie rückte sich auf dem Holzstapel zurecht und schloss die Augen. Im Wald rief ein Kuckuck.
»He«, sagte er nach einer Weile. »Du wirst doch hier nicht einschlafen?« Er stubste sie leicht an. Sie verschränkte die Arme und protestierte leise. Sie hörte ihn seufzen.
»Also gut«, sagte er. »Dann bleib eben noch eine Weile hier sitzen.«
Seine Schritte entfernten sich; er ging ins Haus. Iviidis hielt den Atem an. Sie saß ganz ruhig und blinzelte durch die gesenkten Lider. Zweimal kam der Dunkle wieder und sprach sie an, beide Male winkte sie ihn fort, bedeutete, sie wolle schlafen. Er lachte und ließ ihr ihren Willen.
Dann
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