Elbenzorn
rührte sich lange Zeit nichts mehr. Iviidis riskierte einen Blick. Die kleine Lichtung, auf der die Hütte stand, war leer. Die Sonne stand tief über den Baumwipfeln, und die Schatten krochen über ihren Holzstapel. Sie streckte behutsam die Beine aus und stand auf. Leise ging sie zu dem Pfad, der zwischen den Bäumen verschwand. Sie warf noch einen Blick zurück zu der Hütte, dann lief sie so leise und so schnell es ging den Pfad entlang, der sich als schmal und überwuchert erwies. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, und die dürren Ranken der Brombeersträucher griffen nach ihren Kleidern, hakten sich darin fest und rissen an ihr.
Nach einigen Biegungen schritt sie etwas langsamer aus, und ihr Atem wurde ruhiger. Sie hörte keine Verfolger hinter sich. Es war fatal, dass dies der einzige Weg hinaus war. Sobald der Dunkle feststellte, dass sie fort war, würde er ihr nachsetzen und sie unweigerlich fangen. Sie musste von dem Pfad hinunter, aber das Dickicht rechts und links von ihr war undurchdringlich.
Iviidis blieb stehen und lauschte. Jetzt waren da Geräusche zu hören. Irgendwo hinter ihr rannte jemand, sie hörte Zweige brechen und dumpfe Schritte.
Fieberhaft blickte sie sich um. Es musste ein Schlupfloch geben, irgendein Versteck. Sie zwängte sich durch ein Gebüsch und presste sich eng gegen den zerklüfteten Stamm einer riesigen Ulme. Sie drückte ihr Gesicht gegen die Rinde und legte die Arme über ihren Kopf. Natürlich würde er sie sehen. Sie war ein heller Fleck in dem dunklen Gebüsch … Die Schritte wurden lauter, schon konnte sie den keuchenden Atem ihres Verfolgers hören.
Embul, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Nachdenklich, zärtlich, ein wenig melancholisch und zugleich amüsiert. Embul, lass uns ein …
Die Ulme erschauerte. Der Stamm schien sich unter Iviidis’ Händen zu weiten wie in einem langen Atemzug. Ein hohles Geräusch erklang, ein tiefes Seufzen. Iviidis verlor den Halt und kippte nach vorne. Sie schrie erstickt auf und fiel auf Hände und Knie. Plötzlich war es dunkel und still. Unter ihren Handflächen fühlte sie weichen Mulch.
Iviidis setzte sich auf und tastete umher. Offensichtlich war sie in einer kleinen Höhlung gefangen – oder besser gesagt: gerettet. Sie spürte warmes Holz unter ihren Fingern. Sie hockte sich auf den weichen, duftenden Boden und lehnte sich an die Wand. Wie bin ich hier hereingekommen?, fragte sie sich. Aber vielleicht sollte ich mich lieber fragen, wie ich wieder hinauskomme, setzte sie stumm hinzu.
Sie wandte sich in ihr Inneres. Sie hatte die Stimme erkannt, die die Ulme um Einlass gebeten hatte. Alvydas?, dachte sie. Bist du da irgendwo?
Nicht wirklich, erwiderte die Stimme. Du weißt, dass du nur mit seinen Erinnerungen sprichst. Der wahre Alvydas sitzt in seiner Höhle und sorgt sich um dich.
»Aber du hast mich in diesen Baum versetzt«, sagte Iviidis laut.
Das hast du selbst getan, Tochter der Baumelben, Gefäß der ewigen Erinnerung.
Iviidis schüttelte den Kopf. »Ich habe das alles noch nicht richtig im Griff«, murmelte sie. Sie wartete. Es war unmöglich herauszufinden, was draußen vor sich ging. Besser, so lange zu warten, bis ihr Entführer die Suche aufgegeben hatte.
Sie dachte nach. Der Traum, in dem Rutaaura an ihrer Seite gewesen war, hatte ganz offensichtlich etwas damit zu tun, dass sie nun mit Alvydas’ Erinnerungen leben konnte, ohne davon verrückt zu werden. Sie wagte es nicht, tiefer hineinzutauchen, weil sie befürchten musste, dass sie sich ohne einen Führer darin verlor. Dieser Führer war Alvydas, und sobald sie wieder zu Hause war, würde sie ihn aufsuchen.
Das warf aber eine weitere Frage auf. Wer hatte sie entführen lassen und warum? Wenn es darum ging, dass sie einer wirklichen Verschwörung auf die Spur gekommen und deshalb für irgendjemanden zur Gefahr geworden war, dann war es unverständlich, warum ihre Entführer sie nicht gleich getötet hatten. Wenn es ihr nun also gelingen sollte, nach Hause zu kommen – was würde sie dort erwarten?
Iviidis legte das Gesicht auf die Knie. Es war warm in der Baumhöhlung, und die Luft war stickig. Sie wurde müde. Sie schlief ein.
Der Baum atmete. Leise und sanft wie eine Umarmung schloss sich die Höhlung wieder, in der Iviidis Schutz gefunden hatte. Ihr Schlummer wurde tiefer, und das atmende Holz umfing sie wie eine warme Hand, schmiegte sich dicht an ihre Haut, legte sich schützend um ihren Körper, bis sie endlich von ihm umschlossen
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