Elbenzorn
Zwielicht des Waldes.
»Du gehst fort.« Sie streckte die Hand aus, aber die dunkle Frau mit den Opalaugen, die ihr gegenüber stand, ergriff sie nicht, und deshalb ließ sie sie zögernd wieder sinken. Mit einer hilflosen Geste fuhr sie sich über die Stirn und berührte die glatte, haarlose Haut ihres Kopfes. Erstaunen. Erkennen.
Die Dunkle Elbin hatte sich abgewandt. »Warte«, rief sie mit fremder Stimme, die doch ihre eigene war. »Du musst nicht gehen. Oder wir gehen beide … warte auf mich, Windgesang!«
Die Esche, die ein Leben lang sein Baumbruder gewesen war, starb. Es hatte begonnen, als seine dunkle Schwester sie beide verließ und ihre Seelen mit sich nahm. Er legte die Stirn gegen den Stamm des Baumes und sprach mit ihm. Versprach ihm, er würde sie zurückholen. Sie alle, die gegangen waren und ihr Volk seelenlos zurückgelassen hatten …
Mit einem Ruck schrak Iviidis hoch. Die Traumbilder umklammerten sie, gaben sie nur widerwillig frei. Sie streckte sich und schüttelte die klebrigen Ranken der fremden Träume ab. Alvydas’ Erinnerungen lasteten in ihrem Geist, ließen sie sich fühlen wie einen überprall aufgeblasenen Ballon, der jeden Augenblick zu platzen drohte. Die Echos des Erinnerungsflusses würden zwar mit der Zeit schwächer werden und schließlich verblassen, aber solange sie mit Alvydas an der Aufzeichnung arbeitete, würde sie sich mit den Bildern seines langen Lebens in ihrem Geist arrangieren müssen.
Sie stand eine Weile über den Tisch gebeugt und betrachtete die drei Kristalle, die so unterschiedliche Stimmen beherbergten. Der Schwarzbernstein, der Alvydas’ gesamtes Leben fassen würde, wenn sie fertig waren, glühte in einem satten dunklen Moorbraun, und tief in seinem Inneren pulsierte beständig ein hellgoldener Funke wie eine kleine Sonne. Die kleineren Kristallharz-Speicher an seiner Seite leuchteten mit rötlichen Reflexen, ihr Puls schien sich dem seinen anzupassen. Es war, als sprächen sie miteinander. Iviidis ertappte sich dabei, dass sie ihre Ohren anstrengte, um das leise Flüstern der Kristalle zu erlauschen, wie sie es als Kind im Studierzimmer ihrer Mutter getan hatte. Die stumme Sprache, das Beinahe-Lebendige der Erinnerungskristalle hatte sie schon damals fasziniert.
Iviidis schob die drei Steine – Alvydas, Lootana, Andronee – mit sachten Fingern zusammen, dass ihre Kanten sich berührten. Drei unterschiedliche Leben – und doch schien sie eine Gemeinsamkeit zu verbinden, die sie nicht benennen konnte, aber erahnte.
Der erste Abendruf riss sie aus ihrer Versunkenheit. Sie musste sich beeilen, denn Broneete würde gewiss schon auf sie warten, wenn sie nach Hause kam.
Wirklich traf Iviidis die Gardistin schon vor ihrem Zimmer, als sie eintraf. Broneete sah sie kommen und zog eine Grimasse. »Ein wenig hatte ich gehofft, du hättest mich vergessen«, sagte sie.
Iviidis lachte und zog sie am Arm durch die Türöffnung. »Setz dich hin und nimm dir etwas Obst. Ich sorge nur eben dafür, dass wir ungestört bleiben«, sagte sie fröhlich. So müde sie selbst auch war, sie musste Broneete ihre Befangenheit nehmen.
Broneete setzte sich auf die Kante eines Diwans und starrte mit zusammengezogenen Brauen auf ihre Hände nieder. Sie trug leichte, zivile Kleider in hellen Tönen, die ihre kräftigen Farben und die dunklen Haare betonten. Wahrscheinlich hatte sie es nicht leicht gehabt in der Elbengarde. Die Mehrzahl der Gardisten entstammte Familien, die einen gewissen gesellschaftlichen Rang innehatten, und dazu gehörte Broneetes Familie ganz offensichtlich nicht.
Iviidis zog den Türvorhang zu und legte kurz die Hände auf den feinen Stoff. Sie wob den deutlichen Hinweis, dass sie nicht gestört werden wollte, über die Türöffnung und sorgte gleichzeitig dafür, dass kein Laut aus ihrem Zimmer nach draußen dringen würde. Was auch immer sie von Broneete zu erfahren hoffte – es sollte diesen Raum nicht verlassen.
Dann wandte sie sich um und klatschte leise in die Hände. Broneete zuckte zusammen und blickte auf, Ablehnung in ihrem Blick. Iviidis lächelte sie aufmunternd an und füllte rosafarbenen Wein in zwei Gläser, von denen sie eines ihrem Gast reichte, bevor sie sich in die Kissen des zweiten Diwans sinken ließ. Sie hob das Glas und nickte der Gardistin zu. »Ich bin völlig erledigt«, sagte sie im Plauderton. »Wie war dein Tag?«
Broneete entspannte sich ein wenig. Sie nippte an ihrem Glas, blinzelte und nahm einen zweiten, größeren
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