Elbenzorn
Geist. Da war die Seele der großen Harzträne, still, dunkel, tief und äonenalt. Iviidis nickte wortlos. Alvydas schloss seine kühlen Finger um ihre Unterarme. Seine Haut fühlte sich trocken an und dünn wie Papier.
))Öffne((, sagte Iviidis lautlos.
Alvydas schloss nun ebenfalls die Augen und senkte den Kopf. Beide atmeten im gleichen, langsamen Rhythmus. Iviidis wartete; ihr Geist war ein stilles, leeres Gefäß, bereit, Alvydas’ Erinnerungen zu empfangen und in den Bernstein zu lenken.
Es begann wie immer, ein zögerndes Tröpfeln, das zu einem steten Rinnsaal wuchs. Sie verstärkte sanft den Sog, mit dem sie den Erinnerungsbach in den Speicherstein leitete. Der Bach schwoll zu einem Fluß, zu einem breiten Strom. Sie öffnete sich so weit, wie sie konnte, und ließ die Flut durch sich hindurchströmen.
Es war jedes Mal ein wenig anders. Diese Erinnerungsflut war dicht und zähflüssig wie dunkelgoldener Sirup oder Honig. Ihr Geist schmeckte die bittere Süße und das volle Aroma eines langen, langen Lebens. Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf, tanzten vorbei wie Blätter, waren verschwunden. Ein Baum, größer noch als die Esche, die das Archiv beherbergte, inmitten eines Waldes von solchen Baumriesen. Ein Elb, der einem jungen Alvydas ähnlich sah, aber nicht Alvydas war. Der Elbenthron, auf dem jemand zu sitzen schien. Ein dunkles Gesicht, das sie gerne näher betrachtet hätte, aber es war so schnell fort wie die anderen Eindrücke. Lootana, jung und lachend. Fort. Eine endlos weite Wasserfläche und ein Segel am Horizont. Fort. Der Strom wurde zum Ozean und die Bilder zu konstanten Lichtblitzen.
Iviidis hielt den Kanal aufrecht, so lange sie konnte, aber ihre Kräfte begannen zu schwinden. Sie hob mit letzter Anstrengung die Hand und löste den Kontakt zwischen sich, Alvydas und dem Bernstein. Sie sank in den Stuhl zurück und ließ die letzten Bilder in ihrem Geist zerfasern wie Spinnweben im Wind.
Sie hatte so lange nicht mehr als Kanal gearbeitet, dass sie fast vergessen hatte, wie erschöpft sie sich nach einer Sitzung immer fühlte. Ihr Geist summte und schwirrte von den fremden Erinnerungen, die durch ihn hindurchgeflossen waren, und sie wusste, dass sie noch viele Nächte hiernach fremde Träume träumen würde. Normalerweise wechselten Sondierer sich bei einer Aufzeichnung deshalb ab, damit der aktive Kanal eine Gelegenheit zur Erholung bekam. Aber normalerweise hätten ihr bei der Arbeit auch Assistenten zur Seite gestanden und geholfen, den Kanal stabil zu halten.
Sie sah Alvydas an. Der alte Elb saß schlaff zurückgelehnt in seinem Stuhl und hatte noch immer die Augen geschlossen. »Alvydas, geht es dir gut?«, fragte sie leise und streckte die Hand nach ihm aus.
Er nickte, ohne die Augen zu öffnen. Seine Hand strich federleicht über ihre Finger. »Danke«, sagte er nur.
Iviidis behielt seine Hand in der ihren. Sie saßen eine lange Weile so da, dann ließ ein tiefer Atemzug Alvydas’ gebrechlichen Leib erschauern.
»Ich brauche nur eine Pause«, sagte er. »Und du ganz sicher auch. Wir sollten morgen weitermachen, Kind.«
»Es ist mir recht«, sagte sie. »Alvydas, wer wird das Material archivieren, wenn wir fertig sind?«
Es war nicht üblich, dass der Elb, dem die Erinnerungen gehörten, seine eigenen Aufzeichnungen sichtete, auch, wenn er selbst ein Sondierer war. Aber Iviidis nahm an, dass Alvydas niemand anderen darin herumstochern lassen wollte. Deshalb war sie höchst überrascht, als der Elb nach einer kleinen Pause erwiderte: »Ich denke, du solltest es tun. Ich vertraue dir, wie ich deiner Mutter vertraut habe.«
Iviidis dachte an die Zeit, die es sie kosten würde, um dieses Gebirge an Erinnerungen zu sichten, und war dennoch erfreut. Sie äußerte ihre Überraschung und ihren Dank, aber Alvydas schnitt ihr das Wort ab.
»Du musst mich jetzt ausruhen lassen«, sagte er freundlich. »Wenn du selbst nicht zu müde bist, gilt mein Angebot noch: Du kannst dir Lootanas Aufzeichnungen hier bei mir ansehen.« Iviidis zögerte trotz ihrer Erschöpfung nicht lange. Sie war einfach zu neugierig, was ihre Mutter auf diesem Kristall gespeichert hatte.
Alvydas hatte sich in die kleine Nische zurückgezogen, in der, wie sie wusste, nicht mehr als ein schmales Bett stand. Sie war ungestört. Einige tiefe Atemzüge vertrieben den schlimmsten Druck von ihren Schläfen, sie nahm das Kristallharz in die Hände und befühlte die beinahe lebendige Wärme seiner samtig-glatten
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