Eleanor Rigby
Sie schien sich nicht mehr für sich selbst zu schämen. Wir begannen in den Schränken und im Kühlschrank herumzustöbern, und ich versuchte immer wieder, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Als er mich dabei ertappte, begriff er sofort. »Du weißt nicht, wer mein Vater ist, was?«
»Nein.«
~18~
In dem Moment, als wir in Rom landeten, wurde mir ganz anders, und mein Magen krampfte sich zusammen wie eine Faust. Sobald unsere Gruppe in Zeitlupe die italienische Passkontrolle passiert hatte, schlafwandelten wir in einen europäischen Reisebus, in dem es nach Diesel, türkischem Tabak und Desinfektionsmittel stank. Mittlerweile bekam ich kaum noch Luft. Ich glaubte, wenn ich mich wieder hinsetzte, würde es mir besser gehen, doch weit gefehlt. Einen Bus wie diesen hatte ich noch nie gesehen. Er musste in irgendeinem vergessenen Land wie Albanien gebaut worden sein. Seine Fenster hatten eine völlig absurde Form und Größe, und die braune Karosserie war mit braunen Streifen und Sternen gepflastert. Er war mir fremd, und ich fand ihn furchtbar. Auf einmal hasste ich Italien und alles sonst, wo ich nicht zu Hause war. Es schien, als gälten auf den italienischen Straßen keine Verkehrsregeln. Sie waren von blauem Qualm verschleiert und mit eiförmigen kleinen Pröötprööt!-Autos verstopft. Sogar die Sonne fühlte sich anders an. Das Gefühl, in der Fremde zu sein, war überwältigend. Heutzutage ist Europa vermutlich ein einziges großes IKEA, aber damals merkte man, dass man im Ausland war.
Jedenfalls blieb der Bus prompt in einem römischen Verkehrsstau stecken, und ich begann zu weinen. Heimweh. Die anderen Kinder im Bus waren vom Jetlag so mitgenommen, dass sie mich nicht mal ignorierten. Sie schlössen einfach die Augen oder schauten ungefähr alle siebenundvierzig Sekunden aus dem Fenster.
Ich ertappte Mr. Bürden dabei, wie er Colleen mit hochgezogenen Augenbrauen einen Blick zuwarf. Diese malte mit dem Zeigefinger ein P für »Periode« in die Luft und zuckte dann mit den Schultern. Mr. Bürden seufzte und fragte fast schon unwirsch: »Was ist los, Liz?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich kann dir nicht helfen, wenn ich nicht weiß, was du hast.«
»Ich will nach Hause.«
»Dafür ist es ein bisschen zu spät.«
»Aber ich will. Jetzt. Ich will zurück zum Flughafen und wieder ins Flugzeug.«
»Du bist nur nervös, weil du in einem anderen Land bist.« Wieder schüttelte ich den Kopf.
»Hier ...«,Er griff in seine Manteltasche. »Nimm zwei davon.«
»Was ist das?«
»Die werden dir eine kleine Weile helfen durchzuhalten.«
In dem Moment hätte ich eine Ananas im Ganzen geschluckt, wenn ich geglaubt hätte, das würde mein Leid lindern. Aus dem Nichts zauberte Mr. Bürden eine Flasche Orangina hervor. Ich nippte daran, schluckte die beiden Pillen und versank die nächsten vierzehn Stunden in einer Art Nebel. Währenddessen schleuste man uns in ein bunkerähnliches Gebäude und setzte uns ein hartgekochtes Ei und eine Scheibe fettigen Prosciutto vor. Die Jungs wurden in irgendein anderes Haus gebracht, wohin genau, weiß ich nicht. Als die Pillen schließlich wieder aus meinem Körper geschwemmt wurden, lag ich — plötzlich klar im Kopf - in der Dunkelheit unserer italienischen Jugendherberge in einem Etagenbett. Die anderen Mädchen schliefen.
Ich fühlte mich wie ein politischer Haftung. Mein Kopfkissen hatte die Größe einer Kaugummipastille, die Matratze war so dick wie ein Cracker. Ich rollte mich zusammen, weinte leise in mich hinein und tat, wozu nur junge Menschen imstande sind: Ich bemitleidete mich selbst. Wenn man die dreißig erst mal überschritten hat, verliert man diese Fähigkeit; statt sich selbst zu bemitleiden, wird man verbittert.
Doch ich will nicht vorgreifen. Zurück zu der grauenhaften, schäbigen Jugendherberge mit ihren zerschlissenen Laken und dieser Aura, als spukten zehntausend heimwehkranke Mädchen darin. Zurück nach Italien mit seinen streikenden Klempnern. Plötzlich musste ich irgendwo eine funktionierende Toilette finden, egal wo. Die Toilette der Jugendherberge war nicht besser als ein Eimer. Ich rappelte mich von meiner Matratze hoch und trat hinaus in die römische. Nacht. Unter den Natrium-Straßenlampen, die das leblose Gewerbegebiet in ein verbranntes gelbes Licht tauchten, stürzte mein heimwehkranker Magen ins Unendliche. Von der autostrada, die an das Viertel grenzte, in dem unsere Jugendherberge lag, war ein Dröhnen zu hören. Dies war
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