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Eleanor Rigby

Eleanor Rigby

Titel: Eleanor Rigby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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bat, mich anzurufen, sobald er aufwachte. Dann fuhr ich nach Hause. Seit Stunden hatte ich nicht mehr an meine Weisheitszähne gedacht, doch jetzt kehrte der Wundschmerz zurück. Zum ersten Mal seit sehr langer/Zeit kam mir meine Wohnung nicht einfach nur trist vor. Man könnte vielleicht sagen, dass sie nun eine Art bedeutungsschwangerer Tristesse verströmte.
    Ich brachte es nicht fertig, mich hinzulegen oder zu setzen. Trotz meines Schlafdefizits strotzte ich vor Energie und begann all diese dämlichen, metaphorischen Dinge zu tun, die Menschen tun, wenn sich ihr Leben irgendwie erneuert: Ich zog die Vorhänge auf, ich ging mit einer Mülltüte durch die Wohnung und warf alte Zeitschriften weg, ich putzte die Fenster und wischte die Fußböden. Als ich fertig war, sah die Wohnung so sauber und ordentlich aus, dass ich dachte: Jetzt brauche ich noch ein paar Blumen. Also stieg ich ins Auto und fuhr zu einem Laden in West Vancouver, in dem es, obwohl die Saison schon fast zu Ende war, schöne weiße Pfingstrosen gab. Dann fuhr ich über den Highway zurück. Ich genoss den Sommernachmittag. Wenn ich gewusst hätte, dass Schlafentzug mir de facto Energie verlieh, hätte ich mir das schon längst zunutze gemacht. Ich fühlte mich großartig.
    Dann sah ich kurz vor der Auffahrt Lonsdale Avenue acht Spuren weiter auf der anderen Seite des Highway etwas, das ich zuerst für einen schwarzen Hund hielt, der am Straßenrand entlanglief. Aber es war kein Hund. Es war Jeremy, der in Richtung Westen kroch. O Gott.
    Ich lenkte den Wagen quer über drei Spuren und kam mit quietschenden Bremsen auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Mit einem Satz war ich aus dem Auto, stürmte über den Mittelstreifen und vier weitere Spuren und brüllte Jeremys Namen. Er sah mich kommen, lächelte, winkte und kroch weiter.
    »Was zum Teufel tust du da? Hast du den Verstand verloren?«
    Da er nicht anhielt, musste ich neben ihm hergehen. Er sagte: »Ich krieche auf die Sonne zu. Zur Horseshoe Bay.«
    »Wieso denn das?«
    »Weil sie ein Licht ist, und nach der letzten Nacht brauche ich ein Licht, dem ich folgen kann.«
    »Bis dahin sind es fünfzehn Meilen - und wieso kriechst du auf allen vieren?«
    »Weil es demütig ist.«
    Was war das nur für ein albernes Gespräch? »Wenn du Demut zeigen willst, wieso läufst du dann nicht einfach mit gesenktem Kopf durch die Gegend?« Ich sah ihn mir genauer an; seine Hände und Füße waren aufgescheuert. »Jeremy, du schneidest dich überall.« Auf dem Asphalt lagen zerbrochene Limonadenflaschen herum. »Komm schon. Lass das sein. Sonst kommen die Cops und holen dich, und wer weiß, was dann passiert.« Ich fragte mich, wieso niemand angehalten hatte, um ihm zu helfen oder ihn festzunehmen.
    »Ich kann auf mich selber aufpassen.«
    »Dann beweis es mir, indem du damit aufhörst. Jeremy, hast du irgendwas genommen?«
    »Nein, hab ich nicht.« »Hast du meinen Brief bekommen?«
    »Ja. Ich wollte dich am Ende meines Ausflugs anrufen.«
    »Von der Horseshoe Bay aus?«
    »Das hielt ich für ein realistisches Ziel.«
    Ich ging weiter neben ihm her, während die Autos an uns vorbeibrausten, ohne sich vom Anblick einer korpulenten Frau mit einem auf allen vieren kriechenden jungen Mann irritieren zu lassen. »Wie weit bist du schon gekrochen?«
    »Nicht besonders weit.«
    »O Gott.«
    Er schaute zu mir hoch und sagte: »Okay, ich mach dir einen Vorschlag: Wenn du eine kleine Weile neben mir herkriechst, höre ich auf.«
    »Wie lang ist eine kleine Weile?«
    »Von hier bis zu der Radkappe da vorn.«
    Sie war ungefähr einen Steinwurf entfernt. »Abgemacht.«
    Und so kroch ich mit meinem Sohn den Trans-Canada Highway entlang. Ich hatte schon davon gehört, dass die Mutterschaft einer Frau die Würde rauben kann — und dies war mein Crashkurs in dieser Disziplin.
    Er fragte mich: »Wie hast du letzte Nacht geschlafen?«
    »Nicht gut. Aber ich fühle mich heute großartig.«
    »Das freut mich. Was hast du gemacht?«
    »Ich habe meine Wohnung geputzt.« Ein paar Autos hupten uns an, während ich mich angesichts des Fehlens jeglicher Polizeipräsenz fragte, was aus unserer Gesellschaft werden sollte. »Und ich habe Blumen gekauft. Das habe ich ... nun ja, eigentlich noch nie gemacht.«
    »Das ist schön. Was für welche?«
    »Pfingstrosen.«
    »Welche Farbe?«
    »Weiß.«
    »Die haben so was Sanftes, nicht wahr?«
    »Allerdings.«
    »Ich mag Pfingstrosen.«
    Die kühle Sanftheit der Pfingstrosen war das Gegenteil von

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