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Eleanor Rigby

Eleanor Rigby

Titel: Eleanor Rigby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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nicht das Europa, auf das man mich vorbereitet hatte. Rückblickend wird mir klar, dass wir im Europa der Zukunft gelandet waren.
    Trotz des. Heimwehs verspürte ich auch eine gewisse innere Freiheit, die sich, wie ich heute weiß, ungefähr nach dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr wieder verflüchtigt. Ich war ziemlich froh, ein paar hundert Meter von der Jugendherberge entfernt auf eine rund um die Uhr geöffnete Tankstelle namens Elf zu stoßen. Die Typen drinnen sahen mich schon von weitem kommen. Ganz offensichtlich war es für sie nichts Neues, dass ein Mädchen aus der Herberge ihnen wegen eines dringenden Bedürfnisses einen Besuch abstattete.
    Also, der Grund, weshalb wir Mr. Bürden nie etwas von dem Tankstellenklo erzählt haben, ist folgender: Die Tankwarte waren die attraktivsten Männer, die wir je gesehen hatten — Skulpturen aus Gold mit Stimmen wie Musik. Und ausgerechnet die hockten dort in, einer Tankstelle mitten in der Walachei — die reinste Verschwendung. Sie hätten auf zerklüfteten Lavafelsen thronen und sich das Herz als Opfer für die Götter herausreißen lassen sollen. Abgesehen von ihren körperlichen Vorzügen waren die Burschen auch noch charmant und aufmerksam — sowohl aus reiner Menschenfreundlichkeit wie auch zum Amüsement. Selbst zu mir waren sie ganz reizend - und ... nun ja ... bis dahin hatte noch nie jemand mit mir geflirtet, und danach ist mir das auch nie wieder passiert.
    Sie sprachen mit diesem fetten italienischen Akzent, den ich immer für ein Klischee gehalten hatte: Hallo, Signorina. Gutten Abband. Ich wurde prompt rot, und da ich nur Latein konnte (2+), brachte es mich total aus dem Konzept, nach einem Schlüssel fragen zu müssen. Aber offensichtlich wussten sie, was ich brauchte, und reichten ihn mir wie eine kristallene Champagnerflöte. Obwohl ich wirklich dringend musste, ließ ich mir Zeit. Es war himmlisch. Und das Schönste war, dass die Toilette blitzsauber und sogar mit einem kleinen Strauß Iris geschmückt war — aus Plastik, aber der gute Wille zählt. Als ich in die Jugendherberge zurückkehrte, wachte Colleen gerade auf. Ich erzählte ihr von der Tankstelle, und eine halbe Stunde später kam sie strahlend zurück und sagte, sie fände Europa ganz toll. Am Ende der Nacht waren auch all die anderen Mädchen ganz begeistert von Europa. Tag für Tag konnten wir es kaum erwarten, dass endlich das Sightseeing-Programm vorüber war und wir zur Elf-Tankstelle laufen konnten. Wir waren furchtbar. Die Natur ist furchtbar.

~19~
    Ohne ein Wort säuberte ich mir mit einem Geschirrhandtuch und Leitungswasser Hände und Knie. Ich hatte erwartet, dass Jeremy schwer enttäuscht sein würde, nicht zu erfahren, wer sein Vater war, aber er nahm es ganz ruhig auf. »War es eine Vergewaltigung?«
    »Nein.«
    »Inzest?«
    »Nein.«
    »Du weißt es einfach nicht?«
    »Ein bisschen komplizierter ist es schon, Jeremy. Und da wir beide am Verhungern sind, lass uns erst etwas essen, ja?«
    Er holte Sachen aus dem Kühlschrank, die ich schon völlig vergessen hatte. Schnittlauch. Ein Stück alten Käse. Ein Glas mit irgendwas Eingelegtem.
    »Du kannst kochen«, sagte ich.
    »Berufsfachschule. Mein Ausweg aus der Hölle. Was auch auf der Welt passiert, Köche werden immer gebraucht. Selbst in Armageddon werden die Truppen noch ihren Kartoffelbrei brauchen.« Er zwinkerte mir zu, während er plötzlich anfing, über Dinge zu scherzen, die ihm eben noch eine Todesangst gemacht hatten. Nach dem Zwischenfall auf dem Highway hatte ich nicht die Energie für eine religiöse Debatte.
    Mit sicherer Hand schlug er Eier schaumig und würzte sie mit diesem und jenem. Schüsseln und Küchengeräte kamen und gingen, und zum ersten Mal begriff ich, wieso Kochsendungen im Fernsehen vielleicht doch sehenswert sind.
    »Weißt du, als ich bei Familie Nummer sechs war ...«
    »Moment mal ... Familie Nummer sechs?«
    »Ja. Die sechste Familie, bei der ich untergebracht wurde.«
    »Aha.«
    »Ich war also mit Familie Nummer sechs mal auf einer Landwirtschaftsschau ganz oben im Norden, in Lac La Hache. Der Typ, der uns die Hamburger an den Tisch brachte, hatte zwei unterschiedliche Augenfarben. Ich sagte: ›Wow, ein blaues und ein braunes Auge ‹ , und Familie Nummer sechs erstarrte auf den Stühlen zu Salzsäulen und verharrte so, bis der Kellner außer Sichtweite war. Da ich keine Ahnung hatte, was daran so schlimm sein sollte, fragte ich, und schließlich sagte Vater Nummer sechs: Weißt du

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