Eleanor Rigby
von der Größe und Form eines Hotels
fliegt mit Stapelstühlen anstelle von Sitzen nach Jerusalem.
~53~
Die Polizei fand schließlich doch noch heraus, wer damals in den Siebzigern den Mann in zwei Teile zerhackt hatte. Es war der Zugführer, Ben, den der Anblick des Leichnams so mitgenommen hatte — und derselbe, der mich vom Bahnhof nach Hause gefahren hatte. Gibt es eine bessere Tarnung für einen Mörder, als derjenige zu sein, der den Toten gefunden hat? Es war irgendeine Sexgeschichte, die furchtbar schiefgelaufen war, aber dann stellte sich heraus, dass Ben etwas Ähnliches schon mit drei weiteren armen Schweinen passiert war. Er war ein Serienkiller.
Ben gestand, dass er an jenem Nachmittag sehr wütend auf mich war, weil die Leiche eigentlich noch ein bisschen weiter verwest sein sollte, bevor sie gefunden wurde. So ein Trottel. Wenn er nicht wollte, dass jemand den Toten fand, hätte er die Leichenteile doch nur in den ungefähr eine Viertelmeile entfernten Tunnel schleppen müssen.
Ich dachte an die Leiche und daran, wie ich Jeremy das erste Mal im Krankenhaus gesehen hatte - an das Flair des Übernatürlichen, das beide Erlebnisse prägte. Daraufhin beschloss ich, den Bahngleisen mal wieder einen Besuch abzustatten. Vielleicht würde die Aura dieses Ortes etwas in mir auslösen, die Erinnerung an jene Nacht auf dem Dach in Rom wachrufen. Schaden konnte es jedenfalls nicht.
Ich fuhr hinaus zur Horseshoe Bay — es war ein wunderschöner Tag —, parkte und stieg dann zu den Bahngleisen hoch. Das Bild, das sich mir bot, und der Geruch waren genauso, wie ich beides in Erinnerung hatte. Diese Zeitlosigkeit gefiel mir. Ich hob den Zweig einer jungen Erle auf, ähnlich dem, mit dem ich den Leichnam untersucht hatte. Dann ging ich zu der Stelle, an der er gelegen hatte, aber nichts deutete daraufhin, dass dort ein Mann gestorben war, nicht mal eine von der Sonne ausgebleichte Plastikmargerite oder ein aus zwei Stöcken gebasteltes Kreuz.
Ich wanderte noch ein Stück weiter. Die Heidelbeeren waren reif, und die Vögel taten sich daran gütlich. Auf den Gleisen schien weniger Müll zu liegen als früher, aber abgesehen davon hätte ich mich auch in den siebziger Jahren befinden können.
Trotz aller Anstrengungen wollten sich keinerlei Erinnerungen an jene Nacht in Rom einfinden. Kein Gruppensex. Keine Zudringlichkeiten. Ich war so aufrichtig zu mir, wie ich nur konnte — wenn ich imstande war, eine ganze Schwangerschaft zu verdrängen, war es ebenso gut möglich, dass ich eine Vergewaltigung aus meinem Bewusstsein getilgt hatte. Aber es war zwecklos.
Ich hörte ein Geräusch, das von einer dieser Draisinen stammte, die die Eisenbahn für kleine Besorgungen benutzt. Ich trat von den Gleisen herunter und stellte mich auf ein Fleckchen mit ausgedörrtem Wegerich und Storchschnabel bewachsener Erde. Das Gefährt wurde langsamer, und der Fahrer sagte etwas in sein Funkgerät. Dann sprach er mich an: »He, Sie haben hier nichts zu suchen. Das ist Privatgelände.«
»Wirklich?«
»Haben Sie noch nie was vom 11. September gehört?« Ich verdrehte die Augen. »Ich ruf die Polizei.« »Tun Sie das.«
Wir beide wussten, dass diese Unterhaltung zu nichts führen würde. Er fuhr weiter, und ich ging wieder zum Auto. Etwas an diesem Wortwechsel brachte mich dazu, einen Entschluss zu fassen. Ich werde Folgendes tun: Ich habe für morgen einen Flug nach Wien gebucht, via Frankfurt, erster Klasse - wie ein richtiger Krösus eben. Außerdem habe ich Herrn Bayer meine Ankunftszeit gemailt. In meinem Magen kollert es, mein Kopf ist benebelt. Mein Herz ist schwer - ob vor Gold oder Blei, kann ich nicht sagen.
Ein letzter Gedanke, bevor ich abreise: Vor ein paar Jahren habe ich beschlossen, eine Liste all der Dinge aufzustellen, die ich nicht besonders gut beherrsche - den Papierstau im Bürodrucker beseitigen, begreifen, wie mein Auto funktioniert, die Logik hinter den Miss-America-Wahlen verstehen. Ich glaubte, das würde mein Leben stromlinienförmiger, besser machen — und bis zu einem gewissen Punkt tat es das auch. Aber heute ist mir klar, dass ich durch die Entscheidung, bestimmte Dinge nicht zu tun, Millionen von Gelegenheiten verpasst habe, neue Erfahrungen zu machen, neue Menschen zu treffen - kurz gesagt: zu leben. Deshalb werde ich wieder anfangen, Dinge zu tun, die ich nicht gut kann. Verdammt, ich werde Dinge tun, die ich noch nie ausprobiert habe.
~54~
Also dann.
Ich schreibe diese Zeilen in einer
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