Eleanor Rigby
Geburt.«
~55~
Eine Ms. Greenaway vom kanadischen Konsulat war gerade hier, um zu fragen, ob die Bedingungen im Gefängnis menschenwürdig seien. Sie ist die einzige Person, mit der ich bislang sprechen konnte.
»Menschenwürdig? Ich hätte nichts dagegen, hier zu wohnen.«
»Kein Grund, sarkastisch zu werden, Ms. Dunn. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Sie anständig behandelt werden.«
»Das war kein Sarkasmus. Es ist ganz okay hier.« Von meiner Überzeugung, dass wir Menschen eine äußerst erbärmliche Spezies sind und harte Strafen für die Vergehen verdienen, mit denen wir im Alltag gelegentlich ungeschoren davonkommen, erzählte ich ihr nichts.
Die Art, wie Ms. Greenaway schwieg, sagte mir, dass sie begriff, wie ernst es mir war. Wir saßen in einem quadratischen weißen Raum mit einem Fenster von der Größe einer Spielkarte, und ich konnte erkennen, dass draußen Nacht war. Ich inspizierte den Fußboden auf Kratzer oder Flecken oder irgendetwas anderes hin, das irgendwie von menschlichem Leben zeugte, aber ich konnte nichts entdecken.
»Ms. Greenaway, würden Sie mir bitte sagen, warum ich hier im Gefängnis sitze?«
»Oh, bitte.«
»Im Ernst.«
Ihr Blick verriet mir, dass sie mich für komplett beschränkt hielt. »Das wissen Sie nicht?«
»Nein.«
Nach einem weiteren vielsagenden Schweigen sagte Ms. Greenaway: »Nun, ich werde nicht diejenige sein, die Ihnen das sagt. Das ist nicht meine Aufgabe.«
»Schon gut.«
Sie war eingeschnappt. »Sie meinen, Sie haben wirklich keine Ahnung, weshalb Sie hier sind?«
»Muss ich alles dreimal sagen? Nein, habe ich nicht.«
Ms. Greenaway verlor langsam die Geduld. »Ich brauche Namen von Leuten, mit denen ich Kontakt aufnehmen soll. Familienangehörige. Freunde.«
»Ich habe keine Freunde.« Dann dachte ich an meine Familie. Wenn man sie benachrichtigen würde, gäbe es eine furchtbare Szene, die sich leicht vermeiden ließe. »Ich habe einen Bruder, William. Er ist beruflich ständig auf Reisen. Rufen Sie ihn auf seinem Handy an. Seine Frau ist eine dumme Kuh. Weder Sie noch ich möchten, dass sie da mit reingezogen wird.« Ich gab ihr Williams Nummer und fragte sie, wie es nun weitergehen sollte.
Sie zuckte mit den Achseln. Offensichtlich wollte sie die Sache möglichst schnell hinter sich bringen. »Morgen früh kommt jemand her, um Ihnen behilflich zu sein.«
»Wird der mir sagen, weshalb ich hier bin?«
»Das weiß ich nicht.«
»Himmelherrgott, Ms. Greenaway, ich bin doch nicht blöd. Sie wissen genau wie jeder andere, was ich auf dem Flughafen durchgemacht habe. Dafür muss es doch einen Grund geben.«
»Ich bin nicht befugt, mit Ihnen darüber zu sprechen. Tut mir leid. Auf Wiedersehen.«
Mit einem Elan, der mich an Donna erinnerte, machte sie sich aus dem Staub, und ich bin froh, berichten zu können, dass ich bei ihrem Verschwinden weder Furcht noch Sorge verspürte. Einmal alles Wenn und Aber des Lebens los zu sein ... einmal in den Genuss zu kommen, dass jeder Tag und jede Minute für einen durchgeplant wird ... Das Gefängnis ist das Gegenteil von Freiheit und somit fast genauso befreiend. Überwältigend.
Vielleicht liegt es an dem kleinen Fleckchen Nachthimmel, das ich vor dem Fenster gesehen habe, als ich mit Ms. Greenaway sprach, aber ich bin plötzlich müde. Gute Nacht.
~56~
Bislang habe ich noch gar nicht genug betont, welche Angst es Jeremy machte, dass ihm seine Visionen abhanden kamen. Nachdem er vom Himmel gefallen und auf meinem Sofa gelandet war, sangen wir zwischen seinen Fieberschüben zusammen Rockhymnen rückwärts - oder wir schauten einfach das erbärmlich öde nachmittägliche Fernsehprogramm.
Zeit war für Jeremy ein heikles Thema. Das Leben ist endlich, und Jeremys war einfach endlicher als das der meisten anderen Menschen. Immerhin gewöhnt man sich irgendwie daran, am Leben zu sein.
Manchmal glaube ich, dass man durch seine Visionen auf gewisse Weise in eine Zukunft vordringt, die man nie zu haben fürchtet. Menschen, die das Ende der Welt voraussehen, können sich einfach nicht vorstellen, dass das Leben nach ihrem Tod weitergeht.Wenn sie schon abtreten müssen, wollen sie eben die ganze Welt mitnehmen.
Trotzdem übten die Farmer eine gewisse Faszination auf mich aus. Eines Nachmittags ging ich in die Bücherei und lieh für Jeremy Bücher über Landwirtschaft aus. Ein alberner Einfall, aber Jeremy war hocherfreut. »Obwohl ich immer nur bei Farmerfamilien gelebt habe, habe ich so was noch
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