Electrica Lord des Lichts
Gleichzeitig war sie froh, mit jemandem sprechen zu können, allein um ihre Stimme zu hören und sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte.
„Lord Maclean“, antwortete die Frau wie selbstverständlich.
Also lebte tatsächlich ein Mitglied der gräflichen Familie auf dem Schloss. Sue stand im Moment nicht der Sinn danach, darüber nachzudenken, warum noch niemand diesen Lord gesehen hatte. Viel zu groß war ihre Erleichterung, dass er überhaupt existierte. Er würde ihr helfen können.
„Und du? Wie heißt du?“
„Babu.“
„Wie Babuna?“
Die Frau nickte. Ihre schwarzen Augen suchten unruhig die Gänge ab. Sie schien darauf bedacht, zügig von hier verschwinden zu wollen. Verständlich, denn ganz geheuer war ihr ebenfalls nicht zumute.
„Hör zu. Ich muss den Lord sprechen“, sagte Sue.
„Geht nicht“, beschied die Zigeunerin barsch und zog sie am Arm mit.
Sue riss sich los. „Warum geht das nicht? Du hast gesagt, der Lord kommt. Versteh doch, meine Tante wurde getötet. Jemand muss etwas unternehmen.“
„Es war ein Fehler hierherzukommen“, raunte die Alte.
Ihr einwandfreies Englisch ließ einen leichten Akzent erkennen, den Sue nicht zuordnen konnte.
„Aber ich bin doch nicht freiwillig ...“
Die Augen der Zigeunerin weiteten sich. Im nächsten Moment riss sie Sue mit sich auf die Knie. Mit einer resoluten Handbewegung wies sie Sue an, zu schweigen und senkte den Kopf. Ehe sich Sue fragen konnte, warum sie im leeren Flur auf Knien rutschen sollte, spürte sie einen kalten Luftzug. Eisige Kälte kroch plötzlich über den Boden, zog unter ihre Röcke und ließ die Haut an den Beinen unangenehm prickeln. Ihr Atem stieß kleine Dampfwölkchen aus, wie es sonst nur im tiefsten Winter der Fall war. Gebannt verharrte sie, spürte harten Stein an ihren wunden Knien. Babu verstärkte den Druck an ihrem Handgelenk.
Wie ein frostiger Nebel tauchte er aus dem Nichts auf, glitt lautlos an ihnen vorbei. Erst aus unmittelbarer Nähe erkannte sie einen Mann, weil sie kurz aufblickte, als sein langer Umhang ihren Kopf streifte. Er steuerte in Richtung des erleuchteten Saals, ohne Babu und sie zu beachten. Sie hätten ebenso gut zwei achtlos liegen gelassene Kleiderbündel sein können, denen man nicht mehr Bedeutung zusprach als dem Unrat in den Ecken.
Wo war er hergekommen? Sie hatte keine Schritte gehört. Aus ihrer geduckten Haltung blickte sie dem Mann hinterher. Dieser blieb im Lichtkegel stehen und lüftete seinen Zylinder, weil er sonst damit gegen den Türrahmen gestoßen wäre. Neben sich hörte Sue die kurzen, aufgeregten Atemzüge der Zigeunerin. Anstatt in den Saal zu treten, legte der Mann den Kopf schief, als würde er lauschen.
Sue wollte sich erheben, doch Babu hielt sie am Arm in der Hocke und warf einen vielsagenden Blick auf den Rücken des Lords. Sein Umhang schwang mit einem dumpf flatternden Geräusch herum. Sue hielt den Atem an. Langsam kam er auf sie zu.
„Wen haben wir denn da?“
Seine Stimme war so tief, dass sie wie ein weiches Brummen in Sues Magen widerhallte. Ihr wurde übel vor Angst, obwohl sie sich den Grund nicht erklären konnte. Vermutlich, weil neben ihr Babus Körper erbebte. Die Fingernägel der Frau schabten über den Boden, als sie ihre Hände zu Fäusten ballte, ganz ruhig, ohne einen Ton von sich zu geben. Sue konnte nicht deuten, was von Babu ausging und schon gar nicht, warum die Frau so außer sich geriet. Auf jeden Fall übertraf es alles, was sie jemals an Panik bei einem Menschen erlebt hatte. Es war eine alles übergreifende Furcht, ansteckend wie ein Niesen. Alarmiert neigte Sue krampfhaft ihren Kopf nach unten, bis ihre Nasenspitze beinahe den staubigen Boden berührte. Schwarze Schuhspitzen tauchten vor ihr auf. Darüber der Saum des Umhangs, woraus sie schloss, dass der Mann vor ihr aufragte wie ein schwarzer Fels.
„Verzeiht, Sir. Wir wollten gerade gehen“, kam es unterwürfig von der Zigeunerin.
„Erhebt Euch!“
Da Babu sich nicht von der Stelle rührte, ging Sue davon aus, dass die Aufforderung an sie gerichtet war. Einen Moment zögerte sie, dann richtete sie sich auf. Offensichtlich handelte es sich um den Herrn des Hauses. Zumindest ließ die unbestreitbare Autorität seiner Ausstrahlung darauf schließen. Peinlich berührt über ihre heruntergekommene Aufmachung, wischte sie ihre Hände am Rock ab. Schließlich war sie einfach in sein Haus eingedrungen und sollte aus Höflichkeit erklären, was sie hergeführt
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