Elegie - Fluch der Götter
Verlorenen. Schon wollte er es noch einmal sehen, wollte in Wort und Tat ein Mensch, ein Mann sein, der das Herz der Hohen Frau Cerelinde erfreuen und dieses Strahlen in ihr hervorrufen konnte. Wer wollte nicht ein solcher Mann sein?
»Cerelinde.« Er hob ihr den Kelch entgegen.
»Tanaros.« Ihr Lächeln wurde tiefer. »Danke.«
» Krock! «
Tanaros fuhr unter diesem Laut zusammen, dann lachte er und streckte den Arm aus. In einem Wirbel schwarzer Federn ließ sich Bring von einem Zweig in der Nähe herab und landete auf Tanaros’ Unterarm. »Das hier«, sagte er zärtlich, »ist derjenige, den ich Euch vorstellen wollte.« Er warf Speros einen raschen Blick zu und verspürte ein dunkles Schuldgefühl.
Die Hohe Frau der Ellylon und der verschmutzte Rabe sahen einander an.
»Sein Name lautet Bring«, erklärte Tanaros. »Er war ein spät geborenes Küken. Vor sechs Jahren habe ich ihn halb erfroren im Mondgarten des Fürsten gefunden und ihn mit in meine Gemächer genommen.« Er strich über die schillernden schwarzen Federn des Raben. »Er hat darin eine ziemliche Unordnung angerichtet«, fügte
er mit einem Lächeln hinzu. »Aber er hat mir in der Unbekannten Wüste das Leben gerettet – mir und auch Speros. Jetzt sind wir quitt.«
»Ich grüße dich, Bring«, sagte Cerelinde ernst. »Gut gemacht.«
Der Rabe stieß ein tiefes, kehliges Krächzen aus. Er hüpfte von ihr weg, und dabei drangen seine scharfen Krallen durch Tanaros’ Samtärmel.
»Ich bitte um Entschuldigung.« Tanaros räusperte sich verlegen, als Bring auf seine Schulter kletterte, sich am Kragen des Wamses festhielt und hinter dem Schutz seiner Haare zu Cerelinde hinüberspähte. »Er scheint in Eurer Gegenwart etwas scheu zu sein, Hohe Frau.«
»Dazu hat er gute Gründe.« Ihre Stimme war sanft und melodisch. »Mein Volk hat seine Art gejagt, weil sie dem Weltenspalter als Augen gedient hat, und die Adler Meronils haben sie von unseren Türmen vertrieben. Aber es stimmt auch, dass die Riverlorn den kleinen Rassen nichts nachtragen.« Cerelinde lächelte den Raben an. »Sie wissen nicht, was sie tun. Vielleicht wird eines Tages Friede herrschen. Darauf hoffen wir.«
Bring trat von einem Bein auf das andere und fuhr mit dem büscheligen Kopf auf und ab. Sein scharfer Schnabel bahnte sich einen Weg durch Tanaros’ dunkle Locken, und seine ängstlichen Gedanken zupften an Tanaros’ Geist. Er öffnete sich ihnen und sah nun durch zweifache Augenpaare etwas Vertrautes und zugleich Beunruhigendes. Er blinzelte.
Cerelinde stand in Flammen.
Sie brannte wie ein Signalfeuer unter dem Blick des Raben, eine weibliche Ellyl-Gestalt, glühend heiß und versengend. Es lag Schönheit darin, o ja! Eine schreckliche Schönheit, die Brings knisternde Gedanken mit Angst erfüllte. Ihre Gestalt zerteilte die Dunkelheit wie ein Schwert. Hinter ihr lag nur eine gewaltige Leere. Der Raum zwischen den Sternen, endlose Schwärze und schmerzhafte Kälte. Darin fielen Sterne wie durch einen Riss in der Welt; sie fielen und fielen und fielen, zogen weiß-blaue Schweife hinter sich her, wunderschön und unendlich lang.
Irgendwo ertönte das Brüllen eines Drachenlachens.
Tanaros blinzelte, um wieder einen klaren Blick zu bekommen. Es entstand ein plötzlicher Druck auf seiner Schulter, dann hob sich Bring mit ausgestreckten Schwingen in die Luft und flog zu einem Ast in der Nähe. Der Rabe krächzte; sein Schnabel teilte sich. Überall in der Vogelkolonie wurden seine Rufe beantwortet, bis die gesamte Lichtung von den unheimlichen Lauten widerhallte.
»Vielleicht bin ich hier nicht willkommen«, sagte Cerelinde leise.
»Nein.« Da er nicht wusste, was er sagen sollte, stürzte Tanaros seinen Wein hinunter und hielt Speros den Kelch entgegen, damit er wieder gefüllt werde. Er schüttelte den Kopf und hoffte, auf diese Weise die hartnäckigen Bilder vertreiben zu können. »Nein, Hohe Frau. Ihr seid als Gast hier. Wie Ihr schon sagtet, sind sie ängstlich. Irgendetwas ist Bring in der Wüste zugestoßen.« Nachdenklich runzelte er die Stirn und grübelte über die seltsamen Visionen, die durch die Gedanken des Raben geflattert waren, und über das immer wiederkehrende Bild eines Drachen in ihnen. Nicht irgendeines Drachen, sondern eines sehr alten. »Oder vielleicht schon vorher. Etwas, das ich nicht verstehe.«
»Mir scheint es so«, sagte die Hohe Frau der Ellylon, »dass viele Dinge in der Wüste geschehen, Tanaros.« Sie sah ihn mit derselben ruhigen
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