Elegie - Herr der Dunkelheit
nicht so sein wie jener«, raunte er. »Hervorgebracht durch Gewalt und Hass, ausgestoßen und verstümmelt. Wir ehren die Prophezeiung. Unsere Kinder werden in Liebe empfangen werden, in Übereinkunft mit dem Willen Haomanes und Arahilas.«
Sie legte ihre freie Hand auf seine Brust. »Liebe.«
»Ja, Herrin meines Herzens.« Er bedeckte ihre Hand mit der seinen und sah sie an. »Und niemals weniger als das. Das schwöre ich dir. Obwohl mein Herz schnell und sterblich in meiner Brust schlägt, ist es doch treu. Bis zu meinem Tod ist es dein.«
»Oh Aracus!« Sein Name blieb in ihrer Kehle stecken. »Wir haben so wenig Zeit!«
»Ich weiß«, murmelte er. »Ich weiß es nur zu gut.«
Anderswo im Lande Urulat kroch die Nacht nach Westen.
Langsam schob sie sich voran, ein vergoldeter Rand, der zum Blau des Zwielichts verblasste und den Mantel der Dunkelheit hinter sich herzog. Wo er vorüberzog – über die Felder und Obstgärten von Vedasia, die stinkenden Sümpfe des Deltas, die Harrington-Bucht, die Unbekannte Wüste und Stakkia und Seefeste und Curonan –, gingen die Sterne auf.
Er erreichte die hohen Berge von Pelmar, und dort stand eine Frau an einem steilen Abhang vor einer Höhle. Auf ihrer Stirn trug sie, eingefasst in einen Reif, ein Juwel, das so rot leuchtete wie der niedrig am westlichen Horizont stehende Stern.
Sie hieß Lilias, doch Menschen und Ellylon nannten sie die Zauberin des Ostens. Einst war sie eine sterbliche Frau gewesen, die Tochter eines reichen pelmaranischen Grafen. Der Osten war das Land von Oronin dem Letztgeborenen, in dessen Gefolge der Tod
ritt, und seine Hand ruhte auf jenen Menschen, Arahilas Kindern, die sich in Pelmar niederließen, als ihre Zahl unaufhörlich wuchs. Man erzählte sich, dass jene von edler Geburt hören konnten, wenn Oronins Horn ihnen den Tod verhieß.
Lilias fürchtete den Tod. Sie hatte ihn einst gesehen, in den Augen eines jungen Mannes, mit dem ihr Vater sie vermählen wollte. Er war der Sohn eines Herzogs, gut gewachsen und von sanfter Art, aber sie hatte in seinen Augen ihr unausweichliches Schicksal erkannt, das nahende Alter und viele Generationen noch ungeborener Kinder, und sie hatte das Echo von Oronins Horn vernommen. Es war das Schicksal von Arahilas Kindern, und die mächtige Fessel ihres Seins hielt sie fest umklammert und ließ sie nicht entkommen.
Und so war sie in die Berge geflohen. Sie stieg hinauf, weit hinauf, höher als ihre Brüder es je gewagt hatten, erklomm die Höhen von Beschtanag und versteckte sich in den Höhlen des Berges. Dort begegnete sie dem Drachen.
Er hieß Calandor, und wie alle seiner Art war er unsterblich. Hätte er Hunger verspürt, so hätte er sie vielleicht mit Haut und Haaren gefressen, aber ihn hungerte gerade nicht, und daher fragte er sie, weshalb sie weinte.
Unter Tränen erzählte sie es ihm.
Zwei Ströme von Rauch entwichen seinen Nüstern, denn so lachten die Drachen. Damals vertraute er ihr einen großen Schatz an: einen der verlorenen Soumarië, Ardraths Juwel, das seit vielen Jahrhunderten verschwunden war. Ein einfacher Soldat hatte den Edelstein, den er für einen schlichten Rubin gehalten hatte, auf dem Schlachtfeld aufgelesen. Danach verlor sich seine Spur, bis er sich im Schatz eines Drachen wiederfand, der ihn einer Sterblichen zum Geschenk machte, die nicht zu sterben wünschte.
Derart war die Launenhaftigkeit der Drachen, deren Wissen groß und unergründlich war. Calandor lehrte sie viele Dinge; als Erstes, wie sie mithilfe des Soumanië die Fessel ihres Seins strecken und damit ihren Tod hinauszögern konnte.
Nun fühlte sie keine Angst mehr.
Das alles lag schon lange zurück. Lilias’ Familie war längst tot, ihr
Geschlecht vergessen. Sie war die Zauberin des Ostens und besaß große Macht, die sie weder mit besonders großer Weisheit noch mit besonders großem Leichtsinn gebrauchte. Sie erlaubte es Oronins Kindern, den Wehren, frei in den Wäldern von Beschtanag zu jagen, obgleich sie andernorts dafür geschmäht wurden, dass sie Satoris dem Weltenspalter im letzten großen Krieg zur Seite gestanden hatten. Die Regenten von Pelmar fürchteten Lilias und ließen sie in Frieden, und mehr verlangte sie nicht.
Und bisher hatten es die Sechs Schöpfer genauso gehalten.
Lilias betrachtete den roten Stern am Horizont und fühlte, wie zum ersten Mal seit langen Jahrhunderten wieder Unruhe in ihr aufstieg. Dergails Soumarië war aufgegangen, und große Veränderungen standen
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