Elegie - Herr der Dunkelheit
Cerelinde, die Enkeltochter Elterrions,
sah blicklos auf die Flammen und dachte über jene Tat nach, zu der sie sich am heutigen Tage entschlossen hatte.
Sie war die Hohe Frau der Ellylon, die letzte Nachfahrin des Hauses Elterrion. Nach der Rechnung ihres Volkes war sie noch jung, nach der Spaltung der Welt geboren, als die trauernden Ellylon den Namen Riverlorn für sich gewählt hatten. Ihre Mutter war Erilonde gewesen, die Tochter Elterrions des Kühnen, des Fürsten der Ellylon, und sie war im Kindbett gestorben. Ihr Vater war Celendril aus dem Hause Numireth des Flinken, und er war in der Schlacht gegen Satoris Fluchbringer im Vierten Zeitalter der Gespaltenen Welt gefallen.
Hätte die Menschen nicht an jenem Tage der Mut verlassen, hätte ihr Vater vielleicht überlebt. Haomanes Verbündete hätten vielleicht obsiegt, und die Welt wäre wieder ganz geworden.
Sie hatte den Glanz der Souma und von Haomanes Gegenwart niemals erlebt, sie kannte nur den tiefen, dauerhaften Schmerz von deren Abwesenheit.
Dieses bittere Wissen hatte sie in sich beherbergt, während nach der Rechnung der Menschen viele Generationen geboren und gestorben waren, denn die Zeit berührte sie nicht. Sie hatte über Jahrhunderte hinweg verfolgt, wie die stolzen Könige Altorias, Altarus’ Söhne, zu Männern heranwuchsen und den Thron bestiegen, wie sie liebten, Kriege führten, sich mit ihren Taten brüsteten, vergingen und starben. Sie hatte zugesehen, wie sie sich von ihrer alten Freundschaft mit den Ellylon abwandten, hatte erlebt, wie Satoris Fluchbringer seine Rache plante und das Königreich Altoria zerstörte. Dann hatte sie nicht mehr zugesehen, als die letzten Nachfahren des einst so mächtigen Geschlechts zu bloßen Grenzwächtern von Curonan herabsanken.
Doch schließlich war Aracus gekommen, Aracus Altorus, der schon in jungen Jahren von Malthus dem Gesandten erzogen worden war. Wie sie, so war auch er der Letzte seiner Linie.
Und er war anders als alle, die ihm vorangegangen waren.
Das hatte sie auf den ersten Blick erkannt. Anders als die anderen, als die ruhmreichen Könige Altorias, war sich Aracus der kurzen
Zeitspanne bewusst, die ihm zugebilligt war, und er hatte sie gegen den großen Plan des Weltenspalters gesetzt und war entschlossen, sie bestmöglich auszunutzen. Das hatte sie in seinem Gesicht gelesen, in dem fordernden Blick seiner auseinanderstehenden Augen.
Er begriff, welchen Preis sie beide würden zahlen müssen.
Und in ihr … war ein Begehren aufgewallt.
Auf dem Gang vor ihrer Tür hörte sie den Tritt seiner Stiefelabsätze, die lauter hallten als der Schritt eines Ellylon. Sie hörte den leisen Wortwechsel mit den Wachen Fürst Ingolins. Und dann stand er in ihrem Zimmer, vor der Feuerstelle, und der Geruch nach Pferd, nach Leder und Nachtluft hing an seinem mattgrauen Mantel. Er war schnell geritten, um möglichst bald wieder an ihrer Seite zu sein. Als er sprach, war seine Stimme heiser vor Müdigkeit.
»Cerelinde.«
»Aracus.«
Sie erhob sich, um ihn zu begrüßen. Für einen Menschen war er groß; ihre Augen befanden sich auf einer Höhe. Sie blickte ihm forschend ins Gesicht. Es war seltsam, im schwachen Licht des Feuers den Schatten eines rotgoldenen Barts auf seinem Kinn zu sehen. Er war Arahilas Kind, nicht von ihrer Art.
»Ist es geschehen?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte er. »Die Grenzwacht verbreitet nun die Nachricht von unserem Verlöbnis.«
Cerelinde wandte den Blick ab. »Wie lange wird es dauern, bis sie die Ohren des Weltenspalters erreicht?«
»Das hat sie bereits.« Er nahm ihre Hand. »Cerelinde«, sagte er. »Der Weltenspalter zeigt offen seinen Widerstand. Der Rote Stern des Krieges ist aufgegangen. Ich sah ihn auf meinem Ritt.«
Ihre Finger bebten unter seinen Händen. »So schnell!«
Seine Stimme wurde nun sanfter. »Du weißt, was man erzählt, Herrin meines Herzens. Einer der Drei geht um in den Träumen sterblicher Menschen.«
»Der Fehlgezeugte.« Cerelinde schauderte.
Aracus nickte. »Ja.«
Cerelinde sah auf ihre vereinten Hände. Seine Finger lagen warm,
schwielig und rau an ihrer weichen Haut. Ihr wollte es scheinen, als ob sie sein lebendes Blut in ihnen pochen fühlte, drängend und sterblich, das nach ihr rief. Sie versuchte, nicht an Uschahin den Fehlgezeugten zu denken, aber es gelang ihr nicht.
»Unsere Kinder …«, begann sie.
»Nein!« Schnell und hart fiel Aracus ihr ins Wort. Sein Griff verstärkte sich, fast tat es weh. »Sie werden
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