Elegie - Herr der Dunkelheit
»Glaubst du, dass es einen Unterschied gemacht hätte?«
»Heerführer?«
»Der Träger.« Heerführer Tanaros schob sein Schwert wieder in die Scheide und wandte sich nun ganz dem Mittländer zu. »Er traf die einzige Wahl, die er hatte. Wäre es anders gekommen, wenn wir ihm eine andere Möglichkeit aufgezeigt hätten, was glaubst du?«
»Ich weiß es nicht, Heerführer.«
»Darüber denke ich nach.« Tanaros runzelte die Stirn. »Aber was hätten wir ihm denn anbieten können? Reichtum? Macht? Unsterblichkeit? Das sind nur Bestechungsversuche. Letztlich wäre es stets auf dieselbe Entscheidung hinausgelaufen.« Er ließ den Blick über das Steinerne Tal schweifen. Der kleinere Hügel, der nun außerhalb des Kreises zerborstener Monolithen lag, war in der wachsenden Dämmerung kaum zu sehen. Die Gulnagel hatten kaum eine Stunde gebraucht, um ein Grab auszuheben, das groß genug war, um die Leichen der getöteten Stammesältesten der Yarru aufzunehmen. »Wahrscheinlich.«
»Heerführer.« Speros räusperte sich.»Wird es so etwas … so etwas wie das hier oft geben?«
Tanaros lächelte düster. »Du hast mir gesagt, dass du auch früher schon unschuldiges Blut vergossen hast, Mittländer.«
»Ja.« Er hielt dem Blick des Heerführers stand, obwohl es nicht leicht war. »Aber nicht gern.« Ein ungutes Gefühl der Sorge rührte
sich in seinem Herzen. Dachte der Heerführer darüber nach, ihn wegzuschicken? Speros fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, über die Lücke, wo einmal jener Zahn gewesen war, den er in den Kerkern von Finsterflucht eingebüßt hatte. Er hatte alles auf diese eine Karte gesetzt. Jetzt dachte er an die Mittlande und an den Abscheu, den sein Name inzwischen hervorrief, an die Enttäuschung in den Augen seiner Mutter. Er erinnerte sich, wie Heerführer Tanaros ihn auf dem Übungsplatz als seinesgleichen begrüßt hatte. Er dachte an die Kameradschaft der Fjel, an ihre unerschütterliche Bewunderung und Treue, und er wusste, dass er das alles nicht verlieren wollte. Nicht wegen einer solchen Geschichte. Wegen gar nichts. Was bedeutete schon der Tod einiger alter Versengter? Sie hatten es sich immerhin selbst zuzuschreiben. Der Heerführer hatte sie aufgefordert, ihm einen Grund dafür zu nennen, dass er sie verschonen sollte. Einen Grund, um Nein zu sagen. Das war nicht zu viel verlangt. Seine Hände ballten sich unbewusst zu Fäusten, und er legte die eine salutierend auf sein Herz. »Ich habe Euch enttäuscht, ich weiß. Das wird nicht wieder vorkommen.«
Nun war es der Heerführer, der als Erster wegsah. »Ich wünschte beinahe, ich hätte mich in dieser Hinsicht selbst enttäuscht«, murmelte er, halb an sich selbst gewandt. »Nun gut.« Er seufzte und legte die Hände flach auf die Schenkel. »Du sagst, der Brunnen ist zugeschüttet?«
»Jawohl, Herr!« Speros kam mit einem Ruck auf die Beine, Erleichterung durchströmte ihn. »Ein ganzer Trupp Fjel müsste ein Leben lang graben, um ihn wieder auszubuddeln!«
»Gut.« Heerführer Tanaros stand da und blickte in den dämmrigen Himmel, der hier, in der Wüste, noch größer zu sein schien, und der rote Stern von Dergails Soumanië leuchtete noch heller. »Wir werden uns ein paar Stunden ausruhen und dann vor dem Morgengrauen losmarschieren.« Er wandte sich um und tippte auf Speros’ halb leeren Wasserschlauch. »Das Wasserloch hier ist tief; Ngurra sagte mir, dass es nie versiegt. Also versage dir nichts, Mittländer, denn ich weiß nicht, wie viel Glück wir haben werden, wenn wir die Wüste durchqueren.«
»Jawohl.« Speros hob den Wasserschlauch und nahm gehorsam einen Schluck.
»Ich meine es ernst.« Die Augen des Heerführers waren von Schatten umlagert, und sein Gesicht war hart. Was hier in der Unbekannten Wüste geschehen war, hatte tiefe Spuren hinterlassen. Einen Augenblick sah es so aus, als wollte er darüber reden, dann erschauerte er und riss sich zusammen. Er sah Speros mit klaren Augen an. »Trink, solange du kannst, und sorge dafür, dass jeder Wasserschlauch, den wir finden können, bis zum Platzen gefüllt ist. Ich will uns lebend nach Hause bringen.«
»Jawohl!« Speros lächelte und ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen: »Nach Hause.«
NEUNUNDZWANZIG
S chaut nicht hin.«
Die Stimme von Blaise Caveros war leise, als er versuchte, sein Reittier zwischen sie und den Anblick des gefällten Drachen zu drängen. Die Mühe war vergebens. Calandors riesiger Körper erhob sich hinter der Bresche in der
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