Elegie - Herr der Dunkelheit
ungewohnt an und hatte sich das in Stein gehauene Relief viel stärker zu eigen gemacht, als sie sich je vorzustellen gewagt hatte. Sie zwang die starren marmornen Augenlider in die Höhe und sah auf die Versammlung hinunter. Die Männer waren alle aufgesprungen und starrten zu dem Giebel hoch, sodass sie fast ein wenig Schwindel empfand.
»IHR … SUCHT … DIE HOHE FRAU … CERELINDE. SIE IST … IN SICHERHEIT … IN BESCHTANAG.« Ihr Magen zog sich bei diesen Worten zusammen. Damit war die Möglichkeit vorbei, etwas abzustreiten, hier begann die Schuld. »SIE WIRD EUCH ZURÜCKGEGEBEN WERDEN … ABER ZU EINEM PREIS.«
Es wurde nun viel durcheinandergeredet in der großen Halle von Meronil. Lilias sah ihnen durch die Marmoraugen zu und war sich nur noch dunkel bewusst, dass sich in einer Höhle in Beschtanag die Ränder eines kleinen Spiegels in ihre Handflächen drückten. Manche schrien offenbar, als ob Lilias in der Lage wäre, sie zu hören. Sie sah zu und wartete, und wieder wünschte sie sich, dass Haergan der Meisterwerker seiner Schöpfung auch Ohren verliehen hätte.
Einer wusste es besser.
Ingolin der Weise, Fürst der Riverlorn. Er kümmerte sich nicht
um das Chaos um ihn herum, sondern trat unter den Giebel und wandte sein altersloses Gesicht nach oben.
Unter den Ellylon hatten die Herausragendsten und Strahlendsten ganz nahe bei der Souma gestanden. Als die Welt gespalten wurde und die Meere den tiefen Graben füllten, blieben sie auf der Insel Torath, und dort lebten sie und sangen das Loblied auf Haomane und die Sechs Schöpfer. Jene, die in Urulat lebten, waren nun abgeschnitten, auf ewig getrennt von Haomane dem Erstgeborenen, der sie geschaffen hatte.
Sie waren die Riverlorn.
Einst war Elterrion der Kühne ihr Fürst gewesen, aber er war tot; Cerion der Lotse und Numireth der Flinke, die anderen Hochfürsten der Riverlorn, waren mit ihm gestorben. Nur Ingolin war noch übrig, er, den man den Weisen nannte.
Lilias sah auf ihn hinunter und empfand Mitleid, und das kam für sie unerwartet. Ein schlichter Goldreif hielt sein schimmerndes Haar, und seine Stirn war vor Sorge gefurcht. Seine Augen waren so grau wie ein Sturm, und tief in ihnen lag Leid. Wie konnte es auch anders sein, da sie die Schatten ungezählter Jahrhunderte trugen? Urulat war noch nicht abgetrennt gewesen, als Ingolin erstmals auf der Erde wandelte. Wäre er anstelle von Elterrion dem Kühnen im Ersten Zeitalter der Gespaltenen Welt Fürst der Riverlorn gewesen, vielleicht wäre alles anders gekommen. Ingolin der Weise breitete die Arme aus, und seine Lippen formten die Worte so deutlich, dass sie sie lesen konnte: Was wollt Ihr?
Ihre Marmorlippen bewegten sich und gaben die Antwort.
»ICH WILL MALTHUS UND SEINEN SOUMANIË. BRINGT SIE ZU MIR NACH BESCHTANAG.« Ihre Worte waren kaum ausgesprochen, als völliges Durcheinander ausbrach. Wie sie stritten, die Menschensöhne! Lilias hielt ihre Steinaugen auf den Fürst der Riverlorn gerichtet. »IM GEGENZUG KEHRT DIE HOHE FRAU ZU EUCH ZURÜCK.«
Ein rotgoldenes Aufblitzen, im Augenwinkel wahrgenommen. Aracus Altorus war auf den Tisch gesprungen, die Absätze seiner Stiefel zerschrammten das polierte Holz, sein Schwertarm ragte
schräg nach oben. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt, und in seiner Hand hielt er den Griff einer Standarte, die er von einer Wand gerissen hatte. Mit geräuschlosem Aufschrei schleuderte er sie wie einen Wurfspieß auf Lilias.
Der Stoff der Standarte flatterte. Eine silberne Schriftrolle, halb geöffnet über einem Salbeifeld: das Wappen des Hauses Ingolin.
Das und nicht mehr sah Lilias, bevor das angespitzte, eiserne Ende der Standarte in die Skulptur eindrang und die Wucht des Schlages den Marmor bersten ließ. Sie schrie laut auf, fühlte, wie ihr Stirnbein über der Nasenwurzel zersplitterte, und schlug sich beide Hände vor das Gesicht.
»Aaaahhhh!«
Der Schmerz war unsäglich. Dunkel war Lilias sich bewusst, dass in der großen Halle von Meronil ein Schlag nach dem anderen gegen den Giebel geführt wurde, dass man Marmorbrocken abschlug und den Kopf des Meronin, Haergans Werk, auf immer zerstörte. Aber vor allem spürte sie den Schmerz, zersplitternde Knochen, die sich in ihr Fleisch bohrten, als sie sich auf dem Boden der Drachenhöhle wand, während der Bronzespiegel vergessen neben ihr lag.
»Herrin, Herrin!« Es war Gergons Stimme, und sie klang ungewohnt entsetzt. Die starken Hände ihres Wachhauptmanns legten sich auf die ihren
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