Elegie - Herr der Dunkelheit
beobachtet. Wenn sie uns folgen würden, hätten wir sie längst hören müssen.«
»Vielleicht.« Eine Maske trocknenden Schlamms überzog das Gesicht des Fährtensuchers. »Wenn sie Malthus’ Truppe gefangen nehmen konnten … falls das geschehen ist, mein Junge, dann haben sie vielleicht festgestellt, dass anderswo Dringlicheres zu tun ist. Vielleicht versuchen sie, die Gedanken des Traumspinners einzufangen, ja, oder seine Raben, damit sie Heerführer Tanaros Bericht erstatten, nicht wahr, oder Fürst Satoris selbst.«
»Vielleicht.« Bis zur Hüfte im Wasser stehend, hob Turin das Kinn und sah zum Himmel hinauf, der sich in aufgeheiztem Blau gegen die grünen Blätter der Mangroven abhob. Vögel nisteten in den Baumspitzen, aber nur solche, die hier auch geboren waren. Hoch über ihnen schien die Sonne mit greller Kraft. Haomanes Zorn, der unablässig auf die Geburtsstätte von Satoris niederbrannte, des
Drittgeborenen, der sich seinem Willen widersetzt hatte. Fluchbringer hatte ihn die Welt getauft, aber Stakkia gegenüber hatte er sein Wort stets gehalten, seit Fürst Vorax vor über tausend Jahren seinen Handel mit ihm geschlossen hatte. Welcher andere Schöpfer konnte das von sich sagen, seit die Welt gespalten war? Wenn die Dinge nun aus dem Ruder liefen, konnte es nur bedeuten, dass etwas fürchterlich schiefgegangen war. Und Turin hatte das üble Gefühl, dass es sich genauso verhielt. »Das glaube ich nicht, Hunric.«
Wasser spritzte, als sich der stakkianische Fährtensucher bewegte und seinen Rucksack auf den Schultern zurechtrückte. »Nun denn«, sagte er, und seine Stimme wurde hart. »Wir müssen uns beeilen, damit wir weiterkommen, oder?«
VIERZEHN
H undert Standarten flatterten in Seefeste.
Mit dabei war natürlich der Dreizack von Herzog Bornin, silbern auf meerblauem Feld. Daneben gab es noch viele andere, die Flaggen eines guten Dutzends seiner Vasallen, die Güter in den Mittlanden besaßen. Der breit gefächerte Eichbaum von Quercas war dabei, der goldene Hirsch von Tilodan, die Egge von Sarthac – alle bekannten sie sich voller Stolz zu ihrem Bündnis. Ihre Wappen hatte man in der Stadt Seefeste schon oft gesehen, allerdings noch nie alle zusammen.
Ebenso wenig wie die Schar der Ellylon.
Seit dem Vierten Zeitalter der Gespaltenen Welt war viel Zeit vergangen. Als all diese Banner zuletzt in der Stadt gehisst worden waren, herrschte noch Altoria, dessen König der Herzog von Seefeste die Lehnstreue geschworen hatte.
Es war ein erhabener Anblick.
Wimpel und Oriflammen hingen von jedem Türmchen und über jeder Tür von Burg Seefeste. Auf den Marktplätzen hatten die Händler ihre Stände mit den Bannern geschmückt und hofften, damit ihre Verbundenheit zu den betreffenden Familien der Ellylon auszudrücken, deren Symbole sie zeigten. In den Straßen schritten ellylische Einheiten vorüber und trugen ihre Standarten mit düsterem Stolz. Sie zeigten die silberne Schriftrolle von Ingolin, die Distelblüte von Núrilin, die goldene Biene von Valmaré, den nachtschwarzen Elbok von Numireth, das Steuerrad von Cerion … sie alle und andere, viele andere Wappen der verschiedenen Familien der Riverlorn, die zudem durch die lebenden Nachfahren und trauernden Verwandten höchstselbst vertreten waren.
Über ihnen allen hingen Krone und Souma, die das Wappen von Elterrion dem Kühnen zeigte.
Keine Einheit wagte es, diese Standarte zu tragen, und kein Händler hisste diese Flagge an seinem Stand. Sie hing schlaff in der Sommerhitze vom höchsten Turm auf Burg Seefeste, Gold und Rubin auf weißem Feld, als ob sie wie eine strenge Mahnerin daran erinnern wollte, was auf dem Spiel stand.
Cerelinde.
Und noch eine andere Standarte hing schlicht und schmucklos über der des Herzogs von Seefeste. Es war ein fahlgraues Banner mit einem freien Feld, auf dem das Wappen fehlte. Immer wieder einmal blähte eine Sommerbrise den Stoff. Er entrollte sich und enthüllte … nichts. Nur die graubraungelbe Farbe der Mäntel der Grenzwacht von Curonan, die in der endlosen, mit Herzgras bewachsenen Ebene für perfekte Tarnung sorgen sollte.
Einst hatte Altoria über sie geherrscht, einst hatte der König von Altoria ein anderes Wappen getragen. Ein Schwert, ein goldenes Schwert auf dunklem Feld. Der Korb am Schwertgriff war dabei so gestaltet, dass er die Form von Augen annahm. Es war das Wappen von Altorus dem Weitblickenden, den die Ellylon einst Freund genannt hatten und der schließlich zum
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