Elementarteilchen
Schicht von Würmern vermehrten Weichtiere ihr eigenes Fleisch, das wußte er; Fische mit feinen Zähnen verschlangen diese Weichtiere, ehe sie selbst von größeren Fischen verschlungen wurden. Häufig schlief er ein, hatte schlechte Träume. Wenn er aufwachte, flog das Flugzeug über flaches Land. Im Halbschlaf wunderte er sich über die eintönige Farbe der Felder. Die Felder waren braun, manchmal grün, aber immer stumpf Die Pariser Vorstädte waren grau. Das Flugzeug verlor an Höhe, ging langsam tiefer, wurde unweigerlich von diesem Leben, vom Pulsieren dieser Millionen von Leben angezogen.
Ab Mitte Oktober legte sich eine dichte Nebeldecke, die direkt vom Atlantik kam, über die Halbinsel Clifden. Die letzten Touristen waren abgereist. Es war nicht kalt, aber alles war in ein tiefes, sanftes Grau getaucht. Djerzinski verließ nur selten das Haus. Er hatte drei DVD mitgebracht, die über 40 Gigabyte Daten enthielten. Ab und zu stellte er seinen PC an, untersuchte eine molekulare Konfiguration und legte sich auf sein breites Bett, die Zigaretten in Reichweite. Er war noch nicht ins Institut zurückgekehrt. Hinter der Fensterwand zogen langsam die Nebelmassen vorbei.
Um den 20. November herum klärte sich der Himmel auf, und das Wetter wurde kälter und trockener. Er gewöhnte sich an, lange Spaziergänge auf der Küstenstraße zu machen. Er durchquerte Gortrumnagh, Knockavally und ging meistens bis Claddaghduff, manchmal auch bis Aughrus Point. Dann befand er sich an der westlichsten Spitze Europas, am äußersten Zipfel der westlichen Welt. Vor ihm breitete sich der atlantische Ozean aus, viertausend Kilometer Meer trennten ihn von Amerika.
Hubczejak zufolge muß man die zwei oder drei Monate einsamen Nachdenkens, in denen Djerzinski nichts tat, keine Versuchsreihe aufbaute, keine Berechnung programmierte, als den entscheidenden Zeitraum betrachten, in dessen Verlauf die wesentlichen Elemente seiner späteren Überlegungen heranreiften. Die letzten Monate des Jahres 1999 waren ohnehin für die ganze Bevölkerung der westlichen Welt eine seltsame Epoche, die von einer besonderen Erwartung, von einer Art dumpfen Grübelns, gekennzeichnet war.
Der 31. Dezember 1999 fiel auf einen Freitag. In der Klinik in Verrières-le-Buisson, in der Bruno den Rest seines Lebens verbringen sollte, fand ein kleines Fest statt, an dem die Kranken und das Pflegepersonal teilnahmen. Es wurde Champagner getrunken, und dazu gab es Paprika-Chips. Später am Abend tanzte Bruno mit einer Krankenschwester. Er war nicht un- glücklich; die Medikamente taten ihre Wirkung und hatten jede sinnliche Begierde ausgelöscht. Er freute sich auf den Nachmittagskaffee und die Quizsendungen im Fernsehen, die sie sich gemeinsam vor dem Abendessen ansahen. Er erwartete nichts mehr von der Abfolge der Tage, und der letzte Abend des zweiten Jahrtausends verlief für ihn sehr angenehm.
Auf den Friedhöfen in der ganzen Welt vermoderten die Menschen, die vor nicht allzu langer Zeit gestorben waren, weiter in ihren Gräbern und verwandelten sich allmählich in Skelette.
Michel verbrachte den Abend zu Hause. Er war zu weit vom Dorf entfernt, um den Lärm des Fests zu hören, das dort gefeiert wurde. Mehrmals kamen ihm sanfte friedliche Bilder von Annabelle in den Sinn; und auch Bilder seiner Großmutter.
Er erinnerte sich, daß er mit dreizehn oder vierzehn Jahren Taschenlampen und kleine mechanische Geräte gekauft und sich damit vergnügt hatte, diese stundenlang auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Er erinnerte sich auch an ein kleines Modellflugzeug, das ihm seine Großmutter geschenkt und das nie vom Boden abgehoben hatte, obwohl er alles versucht hatte. Es war ein schönes, mit Tarnfarbe angestrichenes Flugzeug; er hatte es schließlich wieder in den Karton gelegt. Sein Dasein besaß, auch wenn es von Bewußtseinsströmungen durchquert wurde, gewisse individuelle Züge. Es gibt Wesen, und es gibt Gedanken. Die Gedanken nehmen keinen Raum ein. Die Wesen nehmen einen Teil des Raums ein; wir sehen sie. Ihr Bild entsteht auf der Linse, durchquert das Kammerwasser und trifft auf die Netzhaut. Allein in dem leeren Haus nahm Michel eine bescheidene Rückschau seiner Erinnerungen vor. Nur eine Gewißheit schälte sich im Lauf des Abends nach und nach heraus: Er würde sich bald wieder an die Arbeit machen können.
Überall auf der Oberfläche der Erdkugel bereitete sich die an sich selbst und
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