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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Briefpapier mit dem Briefkopf des Krankenhauses (dieser Briefkopf sollte viele Jahre später Hubczejak ermöglichen, den Text inmitten der Masse von Aufzeichnungen zu identifizieren, die in Clifden gefunden wurden). Manche Menschen klammern sich mit aller Gewalt an das Leben und verlassen es, wie Rousseau sagte, nur widerwillig; das würde, wie er schon ahnte, auf Annabelle nicht zutreffen.
    Sie war ein Kind für das Glück bestimmt,
    gab jedem, der es wollte, ihres Herzens Schatz. Sie hätte, inmitten der in ihrem Bett geborenen Kinder, ihr Leben für andere hingeben können.

    Im Schrei der Kinder
    im Blut des Menschengeschlechts
würde ihr stets gegenwärtiger Traum
eine Spur hinterlassen,
die die Zeit prägte,
die den Raum prägte

    Die das Fleisch prägte,
für immer geheiligt
in den Bergen, in der Luft
und im Wasser der Flüsse,
am veränderten Himmel.

    Jetzt bist du da,
auf deinem Sterbebett
in deinem Koma, so ruhig,
für immer so liebevoll.

    Unsere Körper erkalten,
sind nur noch im Gras zu finden,
meine liebe Annabelle,
das ist das Nichts
des individuellen Seins.

    Wir haben wenig geliebt
in unserem menschlichen Gewand.
Vielleicht werden Sonne und Regen,
Wind und Frost auf unseren Gräbern
unserem Leid ein Ende setzen.
    4

        Annabelle starb am übernächsten Tag, für die Familie war das vielleicht besser so. Bei Todesfällen neigt man immer dazu, irgend so einen Schwachsinn von sich zu geben; aber es ist wahr, daß ihre Mutter und ihr Bruder die Ungewißheit nur schwer länger ertragen hätten.
        In dem Gebäude aus weißem Beton und Stahl, demselben, in dem seine Großmutter gestorben war, wurde sich Djerzinski zum zweitenmal der Macht der Leere bewußt. Er ging durch den Raum und näherte sich Annabelles leblosem Körper. Dieser Körper war noch genauso, wie er ihn gekannt hatte, außer daß die Wärme ihn allmählich verließ. Ihr Fleisch war inzwischen fast kalt.
        Manche Menschen glauben, auch wenn sie schon siebzig oder gar achtzig sind, daß es immer noch etwas Neues zu erleben gibt und das Abenteuer, wie man so schön sagt, an der nächsten Ecke lauert; man muß sie letztlich praktisch umbringen oder sie wenigstens in einen Zustand fortgeschrittener Gebrechlichkeit versetzen, damit sie endlich Vernunft annehmen. Das war bei Michel Djerzinski nicht der Fall. Er hatte, seit er erwachsen war, allein gelebt, in einer kosmischen Leere. Er hatte dazu beigetragen, das Wissen zu vergrößern; das war seine Berufung, die Möglichkeit, seine natürliche Begabung auszudrücken; nur die Liebe hatte er nicht kennengelernt. Auch Annabelle hatte trotz ihrer Schönheit die Liebe nicht kennengelernt; und jetzt war sie tot. Ihr lebloser Körper lag aufgebahrt in der Sonne, nutzlos wie ein reines Gewicht. Dann wurde der Deckel auf den Sarg geschraubt.
        In ihrem Abschiedsbrief hatte sie darum gebeten, eingeäschert zu werden. Vor der Zeremonie tranken sie einen Kaffee in der Cafeteria der Eingangshalle; am Nebentisch saß ein Zigeuner mit einem fahrbaren Tropf und diskutierte mit zwei Freunden über Autos. Die Beleuchtung war schwach - ein paar Deckenleuchten inmitten einer widerwärtigen Dekoration, die an riesige Korken denken ließ.
        Sie gingen nach draußen in die Sonne. Die Krematoriumsgebäude befanden sich nicht weit vom Krankenhaus, im selben Komplex. Das eigentliche Krematorium war ein großer Block aus weißem Beton, umgeben von einem ebenso weißen Platz, auf dem sich die Sonne gleißend widerspiegelte. Die heiße Luft umspielte sie wie eine Unzahl kleiner Schlangen.
        Der Sarg wurde auf einer mobilen Plattform befestigt, die in den Verbrennungsofen gefahren werden konnte. Nach dreißig Sekunden gemeinsamer Andacht setzte ein Angestellter den Mechanismus in Bewegung. Die Zahnräder, die die Plattform antrieben, knirschten leise; die Tür schloß sich wieder. Durch ein Sichtfenster aus feuerfestem Glas konnte man die Verbrennung überwachen. In dem Augenblick, als die Flammen aus den riesigen Brennern aufloderten, wandte Michel den Kopf ab. Etwa zwanzig Sekunden lang blieb ein roter Schimmer am Rand seines Sehfelds; und dann war alles vorbei. Ein Angestellter schüttete die Asche in einen kleinen Kasten, einen Quader aus hellem Fichtenholz, und übergab sie Annabelles ältestem Bruder.

    Sie fuhren sehr langsam nach Crécy zurück. Auf der Allee, die zum Rathaus führte, glitzerte die Sonne durch die Blätter der Kastanien. Annabelle und er

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