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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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gleichgültig. Eine Nebelbank sank von der Kuppe des Hügels hinab und entzog die Tiere nach und nach seinem Blick. Er kehrte zum Wagen zurück.
    Walcott saß am Steuer und rauchte eine Craven; der Regen hatte die Windschutzscheibe mit Tropfen bedeckt. Mit sanfter, zurückhaltender Stimme (eine Zurückhaltung, die jedoch keineswegs als ein Zeichen von Gleichgültigkeit zu werten war) fragte er ihn: »Haben Sie einen Trauerfall in der Familie gehabt? ...« Daraufhin erzählte er ihm die Geschichte von Annabelle und ihrem Ende. Walcott hörte zu, nickte hin und wieder oder stieß einen Seufzer aus. Nach dem Bericht blieb er eine Weile stumm, zündete sich eine weitere Zigarette an, drückte sie sogleich wieder aus und sagte: »Ich stamme nicht aus Irland. Ich bin in Cambridge geboren, und wie es scheint, bin ich sehr englisch geblieben. Man sagt häufig, daß die Engländer viel Gelassenheit und Zurückhaltung entwickelt haben und außerdem die Angewohnheit besitzen, alle Ereignisse im Leben - einschließlich der tragischsten - mit Humor zu nehmen. Das trifft weitgehend zu; aber das ist völlig idiotisch. Humor kann niemanden retten; Humor führt letztlich zu nichts. Man kann die Ereignisse im Leben jahrelang mit Humor hinnehmen, manchmal auch jahrzehntelang, und in gewissen Fällen kann man praktisch bis zum Schluß eine humorvolle Haltung einnehmen; aber letztlich bricht einem das Leben doch das Herz. Egal wieviel Mut, Gelassenheit oder Humor man im Laufe seines Lebens entwickelt hat, am Ende bricht es einem doch immer das Herz. Und dann lacht niemand mehr. Was bleibt, ist nur noch Einsamkeit, Kälte und Schweigen. Was bleibt, ist nur der Tod.«
        Er setzte die Scheibenwischer in Gang und stellte den Motor an. »Viele Leute hier sind katholisch«, sagte er weiter. »Aber das ändert sich allmählich. Irland wird moderner. Mehrere Hightech-Unternehmen haben sich hier niedergelassen, um die reduzierten Sozialabgaben und die Steuerermäßigungen auszunutzen - hier in der Gegend haben wir Roche und Lilly. Und dann natürlich Microsoft - alle jungen Leute in diesem Land träumen davon, bei Microsoft zu arbeiten. Die Leute gehen weniger zur Messe, die sexuelle Freiheit ist größer als vor ein paar Jahren, es gibt immer mehr Diskotheken und Antidepressiva. Na ja, das klassische Schema ...«
        Sie fuhren wieder am See entlang. Die Sonne brach mitten aus einer Nebelbank hervor und zeichnete auf der Oberfl äche des Wassers schillernde Flächen ab. »Aber trotzdem«, fuhr Walcott fort, »Ist der Katholizismus hier noch sehr stark. Die meisten Techniker des Instituts zum Beispiel sind katholisch. Das erschwert mir den Kontakt zu ihnen. Sie sind korrekt und höflich, aber sie betrachten mich als einen Außenseiter, mit dem man nicht richtig reden kann.«
        Die Sonne kam völlig hervor und bildete einen Kreis aus vollkommenem Weiß; der ganze See wurde in gleißendes Licht getaucht. Die Gebirgsrücken der Twelve Bens Mountains ü berlagerten sich am Horizont in abnehmenden Grautönen wie Filmstreifen eines Traums. Sie schwiegen beide. Als sie Galway erreichten, sprach Walcott weiter: »Ich bin Atheist geblieben, aber ich kann verstehen, daß man hier katholisch ist. Dieses Land hat etwas ganz Eigentümliches. Alles vibriert ständig, das Gras auf den Wiesen und die Oberfläche der Gewässer, alles scheint auf eine Anwesenheit hinzudeuten. Das Licht ist sanft und wechselhaft, wie eine sich ändernde Materie. Sie werden es noch sehen. Und auch der Himmel ist lebendig.«

    6

        Er mietete sich eine Wohnung an der Sky Road in der Nähe von Clifden, in einem ehemaligen Gebäude der Küstenwacht, das in Appartements für Touristen umgewandelt worden war. Die Räume waren mit Spinnrädern, Petroleumlampen und allen möglichen altertümlichen Gegenständen ausgestattet, die von den Touristen angeblich sehr geschätzt wurden; das störte ihn nicht. Er wußte inzwischen, daß er sich in diesem Haus - und überhaupt im Leben - wie in einem Hotel fühlen würde.
        Er hatte eigentlich nicht vor, nach Frankreich zurückzukehren, mußte aber in den ersten Wochen mehrmals nach Paris fliegen, um sich um den Verkauf seiner Wohnung und die Transferierung seiner Konten zu kümmern. Er nahm den Flug um 11 Uhr 50 von Shannon. Das Flugzeug flog über das Meer, die Sonne erhitzte die Wasseroberfläche; die Wellen sahen aus wie ein Gewimmel von Würmern, die sich auf endloser Weite ringelten. Unter dieser riesigen

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