Elementarteilchen
wußte, daß die Opfer sich fast immer weigern, ihre Peiniger zu verraten. Das einzige, was er tun konnte, war den Erzieher zu maßregeln, der für den Schlafsaal der siebten Klasse verantwortlich war. Die meisten Kinder hier waren von ihren Eltern im Stich gelassen worden, er stellte für sie die einzige Autorität dar. Er müßte sie strenger überwachen lassen und vor der Tat eingreifen, aber das war nicht möglich, es gab nur fünf Erzieher für zweihundert Schüler. Als Bruno fort war, kochte er sich einen Kaffee und blätterte die Personalakte der Schüler der siebten Klasse durch. Er verdächtigte Pelé und Brasseur, hatte aber keinerlei Beweise. Wenn es ihm gelang, sie zu erwischen, war er entschlossen, sie notfalls von der Schule zu verweisen; schon wenige gewalttätige, rohe Elemente reichten aus, um die anderen zu brutalen Handlungen zu verleiten. Die meisten Jungen, vor allem, wenn sie eine Bande bilden, legten es darauf an, die schwächsten Wesen zu demütigen und zu quälen. Besonders zu Beginn der Jugend erreicht ihre Grausamkeit unerhörte Ausmaße. Er machte sich keine Illusionen über das Verhalten des Menschen, wenn dieser nicht mehr der Kontrolle des Gesetzes unterliegt. Seit seiner Ankunft im Internat in Meaux war es ihm gelungen, sich Respekt zu verschaffen. Ohne diesen letzten Schutzwall des Geset- zes, den er darstellte, würden die Mißhandlungen, die Jungen wie Bruno zugefügt wurden, keine Grenzen mehr kennen, das wußte er.
Bruno blieb sitzen und wiederholte erleichtert die siebte Klasse. Pelé, Brasseur und Wilmart kamen in die achte Klasse und würden in einem anderen Schlafsaal sein. Leider wurde aufgrund von Weisungen aus dem Ministerium, die 1968 im Anschluß an die Mai-Unruhen herausgegeben worden waren, beschlossen, die Zahl der Stellen für die Erzieher in den Internaten zu reduzieren und ein System der Selbstdisziplin einzuführen; die Maßnahme entsprach dem Geist der Zeit und hatte außerdem den Vorteil, die Lohnkosten zu senken. Es wurde leichter, von einem Schlafsaal in den anderen zu schleichen; die Schüler der achten Klasse gewöhnten sich an, mindestens einmal in der Woche bei den Kleineren eine Razzia zu veranstalten; sie kehrten mit einem, manchmal zwei Opfern in ihren Schlafsaal zurück, und dann begann die Tortur. Gegen Ende Dezember sprang Jean-Michel Kempf, ein schmächtiger, furchtsamer junge, der zu Beginn des Schuljahres in das Internat gekommen war, aus dem Fenster, um seinen Folterknechten zu entkommen. Der Sturz hätte tödlich ausgehen können, der Junge hatte jedoch das Glück, mit zahlreichen Knochenbrüchen davonzukommen. Er hatte eine schwere Knöchelverletzung, und die Ärzte hatten Mühe, das zersplitterte Gelenk zusammenzuflikken; es sollte sich herausstellen, daß er zum Krüppel wurde. Cohen führte eine allgemeine Vernehmung durch, die seine Vermutungen bestärkte; obwohl Pelé alles abstritt, erhielt er einen dreitägigen Schulverweis. Die Tiergesellschaften funktionieren praktisch alle nach dem Dominanz-System, das auf der jeweiligen physischen Stärke ihrer Mitglieder basiert. Dieses System zeichnet sich durch eine strenge Hierarchiebildung aus: das stärkste Männchen der Gruppe wird das Alpha-Tier genannt; ihm folgt das zweitstärkste, das Beta-Tier, und so geht es weiter bis zu jenem Tier, das in der Rangordnung den niedrigsten Platz einnimmt und Omega-Tier genannt wird. Die Rangfolge wird im allgemeinen durch Kampfrituale bestimmt; die Tiere niederen Ranges versuchen, ihren Status zu verbessern, indem sie Tiere höheren Ranges herausfordern, denn sie wissen, daß sie im Falle eines Siegs ihre Position verbessern. Ein hoher Rang bringt gewisse Vorrechte mit sich: als erster Nahrung aufzunehmen, mit den Weibchen der Gruppe zu kopulieren. Das schwächste Tier jedoch besitzt im allgemeinen die Möglichkeit, den Kampf zu vermeiden, indem es eine Demutsstellung (eine kauernde Haltung, Präsentation des Anus) einnimmt. Bruno befand sich in einer ungünstigeren Lage. Die Brutalität und das Dominanzverhalten, die in den Tiergesellschaften allgemein verbreitet sind, wird schon beim Schimpansen (Pan troglodytes) von grausamen Willkürakten dem schwächsten Tier gegenüber begleitet. Dieses Verhalten erreicht seinen Höhepunkt bei den primitiven menschlichen Gesellschaften, und innerhalb der höher entwickelten Gesellschaften beim Kind und beim jungen Heranwachsenden. Später kommt das M itleid beziehungsweise die Identifikation mit dem Leiden des
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