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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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natürlich, daß sie tot war; aber das war ein flüchtiger Gedanke, der ihr Gespräch nicht wirklich unterbrach. Als er seine agrégation in Neuphilologie bestand, sprach er lange mit ihr über seine Noten; zu jener Zeit glaubte er allerdings nur noch sporadisch daran. Bei dieser Gelegenheit hatte er zwei Dosen Maronencreme gekauft; das war ihre letzte lange Unterhaltung. Als das Studium zu Ende war und er seine erste Stelle als Lehrer antrat, stellte er fest, daß er sich verändert hatte und nicht mehr richtig mit ihr in Kontakt treten konnte; das Bild seiner Großmutter verschwand allmählich hinter der Wand.

    Am Tag nach der Beerdigung fand eine seltsame Begebenheit statt. Sein Vater und seine Mutter, die er beide zum erstenmal sah, unterhielten sich darüber, was sie mit ihm anfangen sollten. Sie befanden sich im großen Zimmer der Wohnung in Marseille; Bruno saß auf seinem Bett und hörte ihnen zu. Es ist immer eigenartig, wenn man hört, wie andere über einen selbst sprechen, vor allem, wenn sie zu vergessen scheinen, daß man da ist. Man kann dazu neigen, es selbst zu vergessen, das ist nicht unangenehm. Kurz gesagt, er fühlte sich nicht unmittelbar betroffen. Dabei sollte diese Unterhaltung eine entscheidende Rolle in seinem Leben spielen, und später rief er sie sich oft wie- der ins Gedächtnis zurück, ohne daß es ihm übrigens je gelang, wirklich etwas dabei zu empfinden. Es gelang ihm nicht, eine direkte Beziehung herzustellen, eine körperliche Beziehung zwischen sich und diesen beiden Erwachsenen, die ihn an jenem Tag im Eßzimmer vor allem durch ihre Größe und ihr jugendliches Aussehen überrascht hatten. Bruno würde im September in die siebte Klasse kommen, und es wurde beschlossen, daß man ein Internat für ihn finden müsse und sein Vater ihn an den Wochenenden zu sich nach Paris nehmen würde. Seine Mutter würde versuchen, ihn ab und zu in den Ferien aufzunehmen. Bruno hatte nichts dagegen einzuwenden; diese beiden Personen schienen ihm nicht direkt feindselig gesinnt. Das richtige Leben war sowieso das Leben mit seiner Großmutter gewesen.

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    DAS OMEGA-TIER

        Bruno lehnt sich gegen den Waschtisch. Er hat seine Schlafanzugjacke ausgezogen. Die Falten seines kleinen weißen Bauchs sind gegen das Porzellan des Waschtischs gepreßt. Er ist elf. Er will sich die Zähne putzen, wie jeden Abend; er hofft, daß er sich waschen kann, ohne daß es einen Zwischenfall gibt. Doch da nähert sich Wilmart, anfangs noch allein, und stößt Bruno gegen die Schulter. Zitternd vor Angst weicht Bruno zurück; er weiß ziemlich genau, was anschließend geschehen wird. »Laßt mich in Ruhe ...«, sagt er leise.
        Jetzt nähert sich auch Pelé. Er ist klein, stämmig und außerordentlich stark. Er versetzt Bruno eine heftige Ohrfeige, so daß dieser zu weinen beginnt. Dann werfen sie ihn zu Boden, packen ihn an den Füßen und schleifen ihn fort. In der Nähe der Toiletten reißen sie ihm die Schlafanzughose vom Leib. Sein Glied ist klein, kindlich und noch unbehaart. Zu zweit halten sie ihn an den Haaren fest und zwingen ihn, den Mund zu öffnen. Pelé fährt ihm mit einer Klobürste über das Gesicht. Bruno spürt den Geschmack der Scheiße. Er brüllt.
        Brasseur schließt sich den anderen an; er ist vierzehn, er ist der älteste Schüler der siebten Klasse. Er holt seinen Schwanz raus, der Bruno dick und riesig vorkommt. Er stellt sich senkrecht über ihn und pißt ihm ins Gesicht. Am Vortag hat er Bruno gezwungen, ihn zu lutschen und den Arsch zu lecken; aber heute abend hat er keine Lust dazu. »Clément, dein Pimmel ist kahl«, sagt er spöttisch, »da muß man nachhelfen, damit die Haare wachsen ...« Auf ein Zeichen hin seifen die anderen sein Glied mit Rasierschaum ein. Brasseur klappt ein Rasiermesser

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    auf, nähert sich mit der Klinge. Bruno scheißt vor Angst auf den Boden.

    Eines Nachts im Mai 1968 hatte ihn ein Erzieher gefunden, wie er nackt und mit Scheiße bedeckt in den Klos hinten im Hof zusammengerollt lag. Er hatte ihm einen Schlafanzug übergezogen und ihn zu Cohen mitgenommen, dem leitenden Erzieher. Bruno hatte Angst, man würde ihn zur Rede stellen; er fürchtete, er müsse den Namen von Brasseur nennen. Aber Cohen hatte ihn, obwohl er mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden war, sehr sanft behandelt. Im Gegensatz zu den Erziehern, die ihm unterstanden, siezte er die Schüler. Es war sein drittes Internat, und es war nicht das strengste; er

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