Elementarteilchen
mit David in dessen Zelt verbracht. Beim erstenmal hatte es etwas weh getan, aber anschließend hatte sie Lust verspürt, wilde Lust; sie hatte nicht einmal geahnt, daß die sexuelle Lust so stark sein könne. Und dabei hegte sie keinerlei Zuneigung für diesen Typen; sie wußte, daß er sie sehr schnell ersetzen würde, wahrscheinlich war er schon dabei, es zu tun.
Am selben Abend schilderte Laurent bei einem Essen mit Freunden begeistert den Fall Annabelle. Für Mädchen wie sie hatten sie gekämpft, erklärte er; um zu vermeiden, daß das Leben eines knapp siebzehnjährigen Mädchens (»das noch dazu sehr hübsch war«, hätte er fast hinzugefügt) durch ein Ferienabenteuer verpfuscht wurde.
Annabelle fürchtete sich sehr vor der Rückkehr nach Crécyen-Brie, aber in Wirklichkeit geschah gar nichts. Es war der
4. September; ihre Eltern beglückwünschten sie zu ihrer Bräune. Sie teilten ihr mit, daß Michel nicht mehr da sei und schon das Zimmer im Studentenwohnheim in Bures-sur-Yvette bezogen habe; sie hatten offensichtlich nicht die leiseste Ahnung. Sie besuchte Michels Großmutter. Die alte Frau wirkte ziemlich erschöpft, aber sie empfing sie sehr freundlich und gab ihr ohne Schwierigkeiten die Adresse ihres Enkels. Sie hatte es etwas merkwürdig gefunden, daß Michel vor den anderen heimgekehrt war, ja, sie hatte es auch merkwürdig gefunden, daß er einen Monat vor Semesterbeginn in das Studentenheim gezogen war; aber Michel w ar eben ein merkwürdiger Junge.
Mitten in der großen natürlichen Barbarei ist es den Menschen manchmal (wenn auch selten) gelungen, kleine, warme, von der Liebe besonnte Plätze zu schaffen. Kleine, abgekapselte reservierte Bereiche, in denen Intersubjektivität und Liebe herrschten.
Annabelle verbrachte die folgenden beiden Wochen damit, Michel zu schreiben. Es war nicht einfach, sie mußte viel durchstreichen und sehr oft wieder von vorn anfangen. Als der Brief fertig war, waren es vierzig Seiten geworden; zum erstenmal war es wirklich ein Liebesbrief. Sie schickte ihn am 17. September ab, am Tag, an dem die Schule wieder anfing; dann wartete sie.
Die Fakultät Orsay-Paris XI ist die einzige Universität im Pariser Raum, die wirklich nach dem amerikanischen CampusSystem konzipiert ist. Mehrere Wohnheime, die über einen Park verstreut sind, beherbergen die Studenten und Doktoranden. Orsay ist nicht nur ein Lehrinstitut, sondern auch ein Forschungszentrum für Elementarteilchenphysik von sehr hohem Niveau.
Michel bewohnte ein Eckzimmer im vierten und obersten Stock des Hauses 233; er fühlte sich dort gleich wohl. Das Zimmer war mit einem kleinen Bett, einem Schreibtisch und Bücherregalen eingerichtet. Man sah auf eine Rasenfläche, die sich bis an den Fluß hinunterzog; wenn er sich etwas aus dem Fenster lehnte, konnte er ganz rechts die Betonmasse des Teilchenbeschleunigers erkennen. Um diese Jahreszeit, einen Monat vor Semesterbeginn, war das Wohnheim fast leer; es waren nur ein paar afrikanische Studenten da, deren Problem vor allem darin bestand, für den August, wenn die Wohngebäude geschlossen waren, eine Unterkunft zu finden. Michel wechselte ab und zu ein paar Worte mit der Hausmeisterin; tagsüber ging er am Fluß spazieren. Er ahnte noch nicht, daß er mehr als acht Jahre in diesem Wohnheim verbringen sollte.
Eines Morgens gegen elf streckte er sich, umgeben von gleichgültigen Bäumen, im Gras aus. Er wunderte sich darüber, daß er so sehr litt. Seine Weltanschauung, die von den christlichen Kategorien der Erlösung und der Gnade weit entfernt war und nicht einmal den Begriff der Freiheit und der Vergebung kannte, bekam dadurch etwas Mechanisches, Unerbittliches. Wenn die Ausgangsbedingungen erst einmal gegeben sind, dachte er, und die Parameter für das Netz der ersten Interaktionen aufgestellt sind, entwickeln sich die Ereignisse in einem desillusionierten, leeren Raum; ihre Determinierung ist unab- wendbar. Was geschehen war, mußte geschehen, anders konnte es nicht sein; niemand konnte dafür verantwortlich gemacht werden. Nachts träumte Michel von abstrakten, schneebedeckten Räumen; sein in Verbände gewickelter Körper trieb unter einem dicht verhangenen Himmel zwischen Stahlwerken daher. Bei Tage begegnete er manchmal einem der Afrikaner, einem kleinen Malier mit aschgrauer Haut; sie nickten sich gegenseitig zu. Die Mensa war noch nicht geöffnet; er kaufte Thunfisch in Dosen im Supermarkt
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