Elementarteilchen
Großmutter in der seinen; dann kam ein Assistenzarzt, um ihm mitzuteilen, daß er leider im Weg sein würde. Vielleicht sei noch etwas zu machen; nein, keine Operation, das sei unmöglich; aber vielleicht trotzdem etwas, es sei jedenfalls noch nicht alles verloren.
Auf dem Rückweg sagte niemand ein Wort; Marie-Thérèse saß am Steuer ihres Renault 16 und fuhr mit mechanischen Gesten. Auch beim Essen sprachen sie nicht viel, riefen nur hin und wieder eine Erinnerung wach. Marie-Thérèse trug das Essen auf, sie mußte sich irgendwie betätigen; ab und zu hielt sie inne, weinte ein wenig und ging dann wieder in die Küche zurück.
Annabelle hatte die Abfahrt des Krankenwagens und die Rückkehr des Renault 16 beobachtet. Gegen ein Uhr nachts stand sie auf und zog sich an, ihre Eltern schliefen bereits; sie ging bis zu der Gittertür vor Michels Haus. Alles war hell erleuchtet, sie waren wahrscheinlich im Wohnzimmer; aber es war unmöglich, durch die Vorhänge hindurch irgend etwas zu erkennen. Es regnete leicht. Zehn Minuten vergingen. Annabelle wußte, daß sie an der Tür klingeln und Michel sehen konnte; aber sie konnte es auch lassen. Sie war sich nicht recht bewußt, daß sie in diesem Augenblick die konkrete Erfahrung der Freiheit m achte; auf jeden Fall war es ganz furchtbar, und nach diesen zehn Minuten sollte sie nie mehr ganz dieselbe sein. Viele Jahre später sollte Michel eine kurze Theorie der menschlichen Freiheit vorstellen, die auf der Analogie mit dem Verhalten des supraflüssigen Heliums beruhte. Das diskrete atomare Phänomen des Elektronenaustauschs zwischen den Neuronen und den Synapsen im Inneren des Gehirns ist im Prinzip der Quantenunschärfe unterworfen; die große Anzahl der Neuronen bewirkt jedoch durch die statistisch bedingte Aufhebung der elementaren Unterschiede, so daß das menschliche Verhalten - sowohl in seinen groben Zügen wie auch in den Einzelheiten - ebenso streng determiniert ist wie das jedes anderen natürlichen Systems. Doch unter manchen, äußerst seltenen Umständen -die Christen nannten es das Wi rken der Gnade - entsteht eine neue Kohärenzwelle und breitet sich im inneren des Gehirns aus; dadurch läßt sich - vorübergehend oder endgültig - ein neues Verhalten beobachten, das durch ein völlig anderes System harmonischer Oszillatoren bestimmt wird; es handelt sich um etwas, das man gemeinhin eine f reie Handlung nennt. Doch nichts dergleichen ereignete sich in jener Nacht, und Annabelle kehrte ins Haus ihres Vaters zurück. Sie fühlte sich spürbar gealtert. Es sollten fast fünfundzwanzig Jahre vergehen, ehe sie Michel wiedersehen würde.
Das Telefon klingelte gegen drei; die Krankenschwester schien echtes Bedauern zu empfinden. Man habe wirklich alles Menschenmögliche versucht; aber im Grunde sei praktisch nichts mehr möglich gewesen. Das Herz sei eben zu alt, das sei das Problem. Wenigstens habe sie nicht gelitten, das könne man mit Bestimmtheit sagen. Aber man müsse leider sagen, daß es vorbei sei.
Michel ging zu seinem Schlafzimmer, er machte ganz kleine Schritte von höchstens zwanzig Zentimetern. Brigitte wollte aufstehen, doch Marie-Thérèse hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Es vergingen etwa zwei Minuten, dann hörte man aus dem Schlafzimmer eine Art Miauen oder Heulen. Diesmal stürzte Brigitte los. Michel lag zusammengerollt am Fußende des Bettes. Seine Augen waren etwas aus den Höhlen getreten. Auf seinem Gesicht spiegelte sich keine, der Trauer oder einem anderen menschlichen Gefühl gleichende Regung. Sein Gesicht war von widerwärtigem tierischen Entsetzen verzerrt.
Zweiter Teil
Die seltsamen Augenblicke
1
Kurz hinter Poitiers verlor Bruno die Kontrolle über sein Fahrzeug. Der Peugeot 305 geriet ins Schleudern, rutschte über die halbe Fahrbahn, streifte die Leitplanke und blieb stehen, nachdem er sich einmal um die eigene Achse gedreht hatte. »Verdammte Scheiße!« fluchte er dumpf, »so ein Mist!« Ein Jaguar, der mit 220 Stundenkilometern angerast kam, bremste heftig, wäre um ein Haar gegen die andere Leitplanke geprallt und fuhr wild hupend davon. Bruno stieg aus, reckte seine Faust und brüllte »Arschloch!« hinter ihm her, »du verdammtes Arschloch!« Dann wendete er den Wagen und fuhr weiter.
Der ORT DER WANDLUNG war 1975 von einer Gruppe Altachtundsechziger (in Wirklichkeit war keiner von ihnen an den 68er Ereignissen in irgendeiner Weise beteiligt; sagen wir, sie hatten eine Achtundsechziger-
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