Elementarteilchen
Demo-Kassetten.
Als David Annabelle begegnete, hatte er schon über fünfhundert Frauen gehabt; dennoch konnte er sich nicht entsinnen, je eine solche plastische Vollkommenheit gesehen zu haben. Annabelle ihrerseits fühlte sich von ihm angezogen wie alle anderen vor ihr. Sie widerstand ihm mehrere Tage, gab erst eine Woche nach ihrer Ankunft nach. Es waren etwa dreißig, die sich hinter dem Haus versammelt hatten, um zu tanzen, die Nacht war sternklar und sanft. Annabelle trug einen weißen Rock und ein kurzes T-Shirt mit einer Sonne darauf. David tanzte immer in ihrer Nähe, wirbelte sie manchmal in einer Rock-'n'-RollFigur herum. Seit über einer Stunde tanzten sie unermüdlich zu einem bald schnellen, bald langsamen Tamburin-Rhythmus. Bruno lehnte mit zusammengeschnürtem Herzen regungslos an einem Baum, hellwach und auf der Hut. Mal tauchte Michel am Rand des erleuchteten Kreises auf, mal verschwand er in der Nacht. Plötzlich war er da, keine fünf Meter entfernt. Bruno sah, wie Annabelle die Tanzenden verließ und auf Michel zuging, er hörte deutlich, wie sie sagte: »Tanzt du nicht?« Ihr Gesicht war in diesem Augenblick sehr traurig. Michel lehnte die Aufforderung mit einer unglaublich langsamen Geste ab, wie sie ein vorgeschichtliches Tier, das gerade wieder zum Leben erweckt worden ist, hätte ausführen können. Annabelle blieb fünf bis zehn Sekunden regungslos vor ihm stehen, dann wandte sie sich um und schloß sich wieder der Gruppe an. David nahm sie an der Hüfte und zog sie fest an sich. Sie legte die Hand auf seine Schulter. Bruno blickte Michel wieder an; er hatte den Eindruck, daß ein Lächeln seine Lippen umspielte; er senkte den Blick. Als er ihn wieder hob, war Michel verschwunden. Annabelle war in Davids Armen; ihre Lippen berührten sich fast.
Michel lag in seinem Zelt und wartete auf das Morgengrauen. Gegen Ende der Nacht brach ein heftiges Gewitter aus, überrascht stellte er fest, daß er ein wenig Angst hatte. Dann beruhigte sich der Himmel wieder, und es begann ruhig und gleichmäßig zu regnen. Die Tropfen schlugen wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt mit dumpfem Geräusch auf das Zeltdach, aber er war vor ihnen geschützt. Plötzlich hatte er die leise Vorahnung, daß sein ganzes Leben diesem Augenblick gleichen würde. Er würde die menschlichen Regungen nur durchqueren, manchmal würden sie ihm sehr nahe kommen; andere Menschen würden das Glück oder die Verzweiflung kennenlernen; all das würde ihn niemals wirklich betreffen oder erreichen. Im Lauf des Abends hatte Annabelle mehrmals beim Tanzen zu ihm hingeblickt. Er hätte sich gern gerührt, aber er konnte es nicht; er hatte deutlich das Gefühl gehabt, in eisigem Wasser zu versinken. Dabei war alles außerordentlich ruhig. Er hatte den Eindruck, durch wenige Zentimeter Leere, die gleichsam einen Panzer oder eine Rüstung bildeten, von der übrigen Welt getrennt zu sein.
15
Am nächsten Morgen war Michels Zelt leer. Alle seine Sachen waren verschwunden, aber er hatte einen Zettel hinterlassen, auf dem nur stand: »MACHT EUCH KEINE SORGEN.« Bruno fuhr eine Woche später wieder ab. Als er in den Zug stieg, kam ihm zu Bewußtsein, daß er während des ganzen Aufenthalts nicht einmal versucht hatte, ein Mädchen anzusprechen, und in den letzten Tagen nicht einmal mehr, mit irgend jemandem zu reden.
Gegen Ende August stellte Annabelle fest, daß ihre Regel ausblieb. Sie sagte sich, daß es so besser sei. Es gab keine Schwierigkeiten: Davids Vater kannte einen Arzt, der beim Planning fa milial aktiv war und in Marseille operierte. Ein Typ mit einem kleinen rotblonden Schnurrbart, um die Dreißig, voller Begeisterung, der Laurent hieß. Er bestand darauf, daß sie ihn beim Vornamen nannte: Laurent. Er zeigte ihr die verschiedenen Instrumente, erklärte ihr, wie das Absaugen und das Ausschaben vor sich ging. Er legte Wert darauf, mit seinen Patientinnen, die er fast wie Freundinnen behandelte, einen demokratischen Dialog herzustellen. Er hatte von Anfang an die Frauenbewegung unterstützt, und ihm zufolge blieb da noch viel zu tun. Der Operationstermin wurde für den folgenden Tag angesetzt; die Kosten übernahm das Pl annin familial .
Als Annabelle in ihr Hotelzimmer zurückkehrte, war sie völlig mit den Nerven fertig. Am folgenden Tag würde sie die Abtreibung vornehmen lassen, noch eine Nacht im Hotel schlafen und dann nach Hause zurückkehren; das hatte sie beschlossen. Seit drei Wochen hatte sie jede Nacht
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