Elementarteilchen
ganze westliche Zivilisation überrollen sollte; daher hatte er sich in seiner Villa in Big Sur mit Allan Watts, Paul Tillich, Carlos Castaneda, Abraham Maslow und Carl Rogers unterhalten. Einige Zeit später war es ihm sogar vergönnt, Aldous Huxley, dem wahren geistigen Urheber der Bewegung, zu begegnen. Huxley, der schon stark gealtert und fast erblindet war, schenkte ihm nur begrenzte Aufmerksamkeit; doch diese Begegnung sollte ihn entscheidend beeinflussen.
Die Gründe, die ihn 1970 dazu brachten, Kalifornien zu verlassen und sich ein Landgut in der Haute-Provence zu kaufen, waren ihm selbst nicht völlig klar. Später, gegen Ende seines Lebens, gelangte er zu der Überzeugung, er habe aus undurchsichtigen Gründen den Wunsch gehabt, in Europa zu sterben; aber anfangs war er sich nur oberflächlicherer Beweggründe bewußt. Die 68er Bewegung hatte ihn beeindruckt, und zu dem Zeitpunkt, da die Hippiewelle in Kalifornien allmählich wieder abnahm, sagte er sich, daß vielleicht irgend etwas mit der europäischen Jugend zu machen sei. Jane bestärkte ihn darin. Vor allem die französische Jugend war verklemmt und vom paternalistischen Joch des Gaullismus unterdrückt; aber Jane zufolge genügte ein Funke, um alles in Brand zu setzen. Seit einigen Jahren bestand Francescos größtes Vergnügen darin, mit sehr jungen Mädchen, die sich von der spirituellen Aura der Bewegung angezogen fühlten, Marihuana-Zigaretten zu rauchen und sie anschließend, umgeben von Mandalas und Räucherstäbchen, zu vögeln. Die Mädchen, die in Big Sur auftauchten, waren im allgemeinen kleine bescheuerte protestantische Ziegen; wenigstens die Hälfte von ihnen waren noch Jungfrau. Gegen Ende der 60er Jahre begann der Strom nachzulassen. Da sagte er sich, daß es vielleicht Zeit sei, nach Europa zurückzukehren; er fand es selbst merkwürdig, in dieser Form daran zu denken, hatte er doch Italien im Alter von knapp fünf Jahren verlassen. Sein Vater war nicht nur ein revolutionärer Aktivist gewesen, sondern auch ein kultivierter Mensch, ein Ästhet, der eine Schwäche für gepflegte Unterhaltung hatte. Das hatte wohl Spuren bei ihm hinterlassen. Im Grunde hatte er die Amerikaner schon immer für etwas bescheuert gehalten.
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Er war noch ein sehr gut aussehender Mann, mit scharf geschnittenen, matten Gesichtszügen, dichtem, langem, gewelltem weißen Haar; und doch begannen sich die Zellen im Inneren seines Körpers wild zu vermehren, den genetischen Code der Nachbarzellen zu zerstören und Toxine zu bilden. Die Spezialisten, die er aufgesucht hatte, widersprachen sich in vielen Punkten, außer in einem, dem wesentlichen: daß er bald sterben würde. Sein Krebs konnte nicht mehr operiert werden, er würde unweigerlich weitere Metastasen entwickeln. Die meisten Ärzte waren der Meinung, daß er ein friedliches Ende erleben würde und mit Hilfe einiger Medikamente sogar bis zum Schluß keine Schmerzen zu erleiden habe; tatsächlich empfand er bislang nur eine große allgemeine Müdigkeit. Er fand sich jedoch nicht damit ab; es war ihm nicht einmal gelungen, sich auf diese Vorstellung einzulassen. Für den heutigen westlichen Menschen, auch wenn er kerngesund ist, erzeugt der Gedanke an den Tod eine Art Hintergrundgeräusch, das sein Gehirn erfüllt, sobald die Pläne und Wünsche weniger werden. Mit fortschreitendem Alter wird die Gegenwart dieses Geräusches immer aufdringlicher; man kann es mit einem dumpfen Rauschen vergleichen, das manchmal von einem Knirschen begleitet wird. In anderen Zeitaltern wurde das Hintergrundgeräusch durch das Warten auf das Reich des Herrn erzeugt; heute wird es durch das Warten auf den Tod erzeugt. So ist das nun mal.
Huxley, daran würde er sich immer erinnern, schien die Aussicht auf seinen eigenen Tod in keiner Weise berührt zu haben; aber vielleicht war er einfach abgestumpft oder stand unter Drogen. Di Meola hatte Platon, die Bhagavadgita und das Tao teking gelesen; keines dieser Bücher hatte ihm die geringste Erleichterung gebracht. Er war knapp sechzig, und dennoch würde er bald sterben, alle Symptome waren vorhanden, es gab keinen Zweifel. Er verlor sogar das Interesse an Sex, und daher nahm er Annabelles Schönheit sozusagen nur zerstreut zur Kenntnis. Was die Jungen betraf, so bemerkte er sie nicht einmal. Seit lan- gem lebte er umgeben von jungen Leuten, und die vage Neugier, die der Gedanke hervorgerufen hatte, Janes Sohn kennenzulernen, war vielleicht nicht mehr als eine
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