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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Steifen. Er hatte den Eindruck, zwischen den Beinen ein nässendes, verfaultes, von Würmern zerfressenes Stück Fleisch zu haben. Mehrere Male versuchte er, Mädchen auf der Straße anzusprechen, erhielt zur Antwort nur Erniedrigungen. Nachts blickte er sich im Spiegel an. Sein Haar, das ihm vom Schweiß am Schädel klebte, begann sich über der Stirn zu lichten; die Falten seines Bauchs waren durch das Hemd hindurch zu erkennen. Er begann, in Sexshops und Peep-Shows zu gehen, mit dem Ergebnis, daß er noch stärker litt. Zum erstenmal suchte er bei Prostituierten Linderung.
        In den Jahren 1974/1975 hatte sich eine subtile, endgültige Wandlung in der westlichen Gesellschaft vollzogen, sagte sich Bruno. Er lag noch immer auf dem Grashang des Kanals; seine zusammengerollte Leinenjacke diente ihm als Kopfkissen. Er riß ein Grasbüschel aus, tastete die feuchte, rauhe Oberfläche ab. In den gleichen Jahren, in denen er sich erfolglos bemüht hatte, im Leben zurechtzukommen, hatte in den westlichen Gesellschaften eine Wandlung stattgefunden, die auf etwas Düsteres zusteuerte. In jenem Sommer 1976 war es schon völlig klar, daß all das ein schlimmes Ende nehmen würde. Die körperliche Gewalt, die ausgeprägteste Erscheinungsform der Individualisierung, sollte in den westlichen Ländern die sinnliche Begierde ablösen.

    10

    JULIAN UND ALDOUS

    »Wenn die grundlegende Lehrmeinung geändert oder erneu ert werden muß, fühlen sich die geopferten Generationen,. in deren Mitte sich diese Veränderung vollzieht, im wesent lichen von ihr unberührt oder stehen ihr gar ausgesprochen feindlich gegenüber.«

    (Auguste Comte: Aufruf an die Konservativen)

    Gegen Mittag stieg Bruno wieder ins Auto und fuhr ins Zentrum von Parthenay. Schließlich beschloß er, doch die Autobahn zu nehmen. Aus einer Telefonzelle rief er seinen Bruder an - der sogleich abnahm. Er fahre nach Paris zurück und würde ihn gern noch heute abend sehen. Morgen sei nicht möglich, da sei er mit seinem Sohn zusammen. Aber heute abend, ja, das sei ihm ziemlich wichtig. Michel äußerte keine große Begeisterung. »Wenn du willst ...«, sagte er nach langem Schweigen. Wie die meisten Menschen verabscheute er die Tendenz zur gesellschaftlichen Zersplitterung, die die Soziologen und Kommentatoren so gut beschrieben haben. Wie die meisten Menschen fand er es wünschenswert, einige wenige familiäre Beziehungen aufrechtzuerhalten, auch wenn ein gewisses Maß an Langeweile damit einherging. So hatte er sich jahrelang dazu gezwungen, Weihnachten bei seiner Tante Marie -Thérèse zu verbringen, die ihre letzten Lebensjahre mit ihrem netten, fast tauben Mann in einem kleinen Einfamilienhaus in Raincy verbrachte. Sein Onkel wählte immer noch die Kommunisten und weigerte sich, zur Mitternachtsmesse zu gehen, das war jedesmal ein Anlaß, mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Mi chel hörte zu, wie der alte Mann über die Emanzipation der Arbeiter sprach und dabei seinen Enzian trank; ab und zu brüllte er irgendeine Banalität als Antwort. Dann trafen die anderen ein, unter ihnen auch seine Cousine Brigitte. Er mochte Brigitte gern und hätte ihr gewünscht, sie möge glücklich sein; aber mit einem so bescheuerten Mann war das offensichtlich schwierig. Er war Arzneimittelvertreter bei Bayer und betrog seine Frau so oft wie möglich; und da er gut aussah und viel auf Reisen war, war es oft möglich. Jedes Jahr war Brigittes Gesicht etwas schmaler.
        1990 verzichtete Michel auf seinen jährlichen Besuch; es blieb noch Bruno. Die familiären Beziehungen bleiben einige Jahre, manchmal sogar einige Jahrzehnte erhalten, tatsächlich bleiben sie viel länger erhalten als alle anderen; und dann geht es schließlich mit ihnen zu Ende.

Bruno traf gegen einundzwanzig Uhr ein, er hatte schon etwas getrunken und verspürte den Drang, theoretische Fragen anzusprechen. »Ich habe mich immer darüber gewundert«, begann er, noch ehe er sich setzte, »wie unglaublich zutreffend die Voraussagen sind, die Aldous Huxley in Schöne neue Welt gemacht hat. Wenn man bedenkt, daß dieses Buch 1932. erschienen ist, ist das völlig irre. Seitdem hat die westliche Gesellschaft unablässig versucht, sich diesem Modell anzunähern. Immer genauere Kontrolle des Zeugungsvorgangs, die eines Tages zur völligen Trennung von Zeugung und Sex und zur künstlichen Fortpflanzung der Menschheit im Labor unter völlig sicheren, zuverlässigen genetischen Bedingungen führen wird. Es

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